Jürgen Wesseler, ein wesentlicher Wegbereiter zeitgenössischer Kunst, ist verstorben (1. März 1938 - 28. Februar 2023)

 

Man kennt das Kabinett in New York, aber wer kennt es schon in Bremen oder Bremerhaven“, so Thomas Deecke, der frühere Direktor des Museum Weserburg. Dass sich die Arbeiten der früh im Kabinett ausgestellten Künstler:innen heutzutage in den wichtigsten internationalen Museen befinden, sie mittlerweile ihre Documenta- Auftritte hatten und in unzähligen Doktorarbeiten diskutiert werden, konnte keiner voraussehen. Längst sind auch die Bremerhavener stolz auf das Kabinett für aktuelle Kunst.

Bereits 1967 gründete Jürgen Wesseler mit einer kleinen Gruppe von Interessierten das Kabinett für aktuelle Kunst, um dem konservativen Programm des 1886 gegründeten Kunstvereins ein progressives entgegenzusetzen. Der Ort: ein ehemaliges Ladengeschäft, 35 qm groß, im Schuhkartonformat, dessen vierte Wand aus einer Schaufensterfront besteht, im Erdgeschoss der Kunsthalle gelegen. Jürgen Wesseler gehörte seit 1969 zunächst dem Beirat des Kunstvereins an und von 1971 bis 2015 dem Vorstand, dessen Vorsitz er von 1987 bis 2012 innehatte. Höhepunkt seiner Aktivitäten war der Bau des 2007 eröffneten Kunstmuseums, in dem die Sammlung des Kunstvereins ausgestellt ist. Zwar hat Jürgen Wesseler das Kunstmuseum 2007 nicht allein dort hingestellt, aber man darf sagen: Ohne ihn würde es das Museum nicht geben. Nach dem Studium in Oldenburg, nach dreieinhalb Jahren beruflicher Tätigkeit in Hamburg, kehrte er 1964 nach Bremerhaven zurück, um im Stadtplanungsamt eine Stelle als Vermessungsingenieur anzutreten, wo er bis zum Ruhestand tätig war. 2008 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen und damit seine langjährige Arbeit für den Kunstverein sowie seine Verdienste als Begründer, ehrenamtlicher Betreiber und Ausstellungsmacher des Kabinetts für aktuelle Kunst gewürdigt.

Marina Abramovic/Ulay, Bas Jan Ader, Carl Andre, Bernd & Hilla Becher, Daniel Buren, Hanne Darboven, Isa Genzken, On Kawara, Wolfgang Laib, Jürgen Partenheimer, Guiseppe Penone, Sigmar Polke, Gerhard Richter, Richard Tuttle, Henk Visch, Elisabeth Wagner, Franz Erhard Walther, Lawrence Weiner, Jerry Zeniuk und viele andere haben das Kabinett für aktuelle Kunst bespielt. Doch Jürgen Wesseler hat die meisten dieser inzwischen international renommierten Künstler:innen bereits Jahre vor ihren ersten Erfolgen in die Hafenstadt geholt und es mit seinem Spürsinn und Engagement geschafft, sie für das kleine Ladenlokal zu begeistern und dort ihre Spuren zu hinterlassen. Die Bremerhavener Pionierleistungen setzen sich auch in der Gegenwart fort. In den letzten Jahren hat sich  das Programm des Kabinetts mit Unterstützung seines Sohnes Moritz verjüngt, und es wurden auch Positionen gezeigt, die sich von der Minimal  Art und Concept Art gelöst haben. So fanden Anri Sala, Adrian Schiess, Stephan Balkenhol, Martin Boyce, Björn Dahlem, Ceal Floyer, Manfred Pernice, Gregor Schneider, Andreas Slominski, Mischa Kuball, Paloma Varga Weisz,  Cathy Wilkes, Norbert Schwontkowski und Achim Bitter im Kabinett ein Ausstellungsdomizil. Jürgen Wesseler hat das Neue nie um des Neuen willen ausgestellt.  Auch hier kommt der ihn auszeichnende Rigorismus zum Tragen: „Allerdings müssen die Jungen in diesem Kontext bestehen können, alles andere wäre ein Vertrauensbruch gegenüber den älteren Künstlern.“ (Jürgen Wesseler)

Eine Vielzahl prägnanter Präsentationen entstanden. Ein besonderes Kabinettstück war eine der ersten Wandzeichnungen von Palermo (1969). Hier wurde erstmals im Kabinett nicht nur ein Ambiente mit Bildern geschaffen, sondern der Raum war mit der Arbeit identisch. Die  Bestückung des  Raumes mit umgestürzten Möbeln von Ruthenbeck (1971), die Wandzeichnungen von Tuttle (1990) waren weitere Höhepunkte. Oder Luc Tuymans, der im Kabinett eine Malerei schuf, die sowohl die Decke und den Fußboden, als auch die Wände des Raumes umfasste. 1991 hat Andreas Slominski in die Wand des völlig leeren Ausstellungsraumes eine  menschliche Hand eingemauert, so wird gesagt. 2005 betonierte Gregor Schneider die Fensterfront zu, ein Jahr später verhängte er gemeinsam mit Andreas Slominski das Fenster mit einer durchscheinenden Gardine.

Viele der  Ausstellungen beziehen sich auf die Geschichte des Kabinetts, auf bestimmte Ausstellungen, Werke und Wände. So reagierte schon Hanne Darboven im Jahr 1975 auf eine Arbeit von Lawrence Weiner, indem sie diese wörtlich zitierte. Oder Andreas Slominski und Tuttle bezogen sich auf  Blinky Palermo, Mucha auf Ruthenbeck. Oftmals spielen die Künstler:innen auf Früheres an, greifen Elemente auf, reihen sich in das bisher Stattgefundene ein und stehen dabei in einem imaginären Kontext zu der bisher entwickelten Ausstellungskonzeption. Martin Boyce betitelte 2006 seine Ausstellung „Broken Fall“, dies geschah in dem  Bewusstsein der Präsentationen von Bas Jan Ader, die im Kabinett in den 1970er Jahren stattfanden.

Zum 25jährigen Jubiläum 1992 würdigten das Museum Weserburg unter dem Titel „Vorhut aus dem Hinterland“ und die Städtische Galerie Göppingen die Arbeit Jürgen Wesselers. 2012, also 20 Jahre später, zeigte die Weserburg die Ausstellung „Kabinettstücke“, eine erneute Hommage an die Geschichte des Kabinetts. 2009 hat Gregor Schneider das  Kabinett im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt maßstabsgetreu nachgebaut. Dort kuratierte er gemeinsam mit Moritz Wesseler Ausstellungen des Kabinetts als Double, sei es von Reiner Ruthenbeck, Lawrence Weiner, Gerhard Richter, Isa Genzken oder Wolfgang Laib. Die Kunsthalle Bremen präsentierte 2018 Plakate,die zwischen den 1960er und 1980er Jahren von den Künstler:innen für das Kabinett für aktuelle Kunst gestaltet wurden. Ergänzt durch deren Entwürfe und Skizzen, Fotografien, Briefe und Notizen erzählen sie von der persönlichen Bindung zwischen Künstler:innen und Kurator.

Der besondere Charakter des Kabinetts für aktuelle Kunst liegt in der Kontinuität seines Programms begründet. Die Künstler:innen sind nicht mit fertigen Arbeiten angereist, stattdessen hat Jürgen Wesseler  gemeinsam mit ihnen die Ausstellungen konzipiert. Jenseits von kommerziellen Zwängen konnten und können die Künstler mit dem Raum experimentieren. Sie standen nicht unter Verkaufszwang, der Galerist schaute ihnen nicht über die Schulter, die Kritiker warteten nicht mit gespitztem Bleistift. So entdeckten die Künstler schnell den Reiz des an der Peripherie liegenden Kabinetts. Sie tauschten ihre Erfahrungen aus, reichten die Anschrift des Kabinetts weiter, der eine zog den anderen an. Jürgen Wesseler, ein unermüdlicher Motor und Förderer von Kunst in seiner Heimatstadt, hatte keine Vorbilder für die Ausstellungen, sogar der legendäre Konrad Fischer hatte seine Galerie noch nicht eröffnet.

Jürgen Wesseler war kein Langweiler, sondern jemand, der Publikum und Öffentlichkeit polarisiert.  Jürgen Wesseler liebte die trockene, norddeutsche Ironie, verknüpfte souverän Rigorismus und Humor, apodiktische  Aussagen mit einem Blinzeln in den Augenwinkeln. Weder Provinzkunst, noch einfach Kunst in der Provinz, sondern Ausstellungen auf allerhöchstem Niveau, kompromisslos und konsequent, das war sein Lebenselixier.

Vgl. artist Kunstmagazin, Interview mit Jürgen Wesseler:  Nr 17/1993 und Nr. 70/2007.








Die Co-Direktorin der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, Çagla Ilk, soll den Deutschen Pavillon bei der Kunst-Biennale in Venedig im kommenden Jahr kuratieren.


Die Kuratorin und Architektin Çagla Ilk wurde in Istanbul geboren, sie studierte Architektur an der Technischen Universität Berlin und an der Mimar Sinan Universität Istanbul. Seit 2020 leitet sie mit Misal Adnan Yildiz die Kunsthalle in Baden-Baden. Zuvor war sie von 2012 an Dramaturgin und Kuratorin am Maxim Gorki Theater in Berlin. Ihre Arbeit wird als transdisziplinär zwischen bildender Kunst, Architektur, Sound, Theater und Performance beschrieben. »In einer Zeit, in der Kriege, menschengemachte Naturkatastrophen und Autoritarismus die Krisenhaftigkeit unserer Gesellschaften immer deutlicher offenlegen, ist es wichtiger denn je, unsere bisherige, von nationalstaatlichem Denken geprägte Lebensweise zu hinterfragen und neue Formen des Zusammenlebens zu entwickeln«, so Ilk. Dafür könne sie sich keinen geeigneteren Ort vorstellen als den Deutschen Pavillon, »denn er steht für eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, wie auch für eine lange Tradition wegweisender künstlerischer Arbeiten«. Am Berufungsverfahren hatte es zuletzt Kritik gegeben, weil der Kurator für 2022, der Direktor des Museums Ludwig in Köln, Yilmaz Dziewior, selbst im Auswahlgremium saß, ohne sich an der Wahl zu beteiligen. Die Benennung der Kuratorin erfolgte nun auf Vorschlag einer vom Institut für Auslandsbeziehungen und von übergeordnetem Auswärtigem Amt initiierten Findungskommission. Dazu gehörten u. a. die Leiterin der Villa Romana in Florenz, Elena Agudio, der Co-Direktor des Hamburger Bahnhofs in Berlin, Till Fellrath, die Direktorin des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt/Main, Susanne Pfeffer, Stephanie Rosenthal, Leiterin des Guggenheim Abu Dhabi Projects.

KAI10 zeigt die Ausstellung: »Phantoms and Other Illusions«.

Optische Täuschungen, räumliche Illusionen und Suggestionen stofflicher Qualitäten mit gänzlich anderen Materialien waren schon in bildnerischen und plastischen Darstellungen der Antike anzutreffen. In der Kunst der Moderne hingegen waren Illusion und Täuschung eher verpönt. Nur im Umfeld des Surrealismus kam sie umfassend zum Einsatz, um Fiktionen und Fantasiewelten real erscheinen zu lassen. Und wenn sich Künstler:innen heute nicht mit Illusionen befassen würden, wäre das geradezu weltfremd angesichts der zunehmenden Anzahl uns umgebender Bilder und Dinge, die immer weniger preisgeben, wie sie entstanden sind und welchen Realitätsgrad sie besitzen. In der Ausstellung »Phantoms and Other Illusions« steht das Spiel mit unterschiedlichen Materialien zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit neben Objekten und Installationen, die die Raumerfahrung fiktionalisieren. Zur Debatte stehen dabei nicht zuletzt die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Illusionsbegriffs. Kuratiert von Ludwig Seyfarth. Bis zum 3. September 2023. Info: KAI10 Arthena Foundation, Kaistraße 10, 40221 Düsseldorf, 0211/99434-130. www.kaistrasse10.de