Documenta 16.

Für die Auswahl der Findungskommission waren diesmal die noch lebenden ehemaligen künstlerischen Dpcumenta-Leiterinnen und Leiter zuständig: Catherine David (Documenta 10, 1997), Roger M. Buergel (Documenta 12, 2007), Carolyn Christov-Bakargiev (Documenta 13, 2012) und Adam Szymczyk (Documenta 14, 2017). Rudi Fuchs (Documenta 7, 1982) und Ruangrupa (Documenta 15, 2022) waren nicht dabei. Nun stehen die sechs Mitglieder fest. Bracha Lichtenberg Ettinger ist eine israelische Malerin, bildende Künstlerin, Philosophin, Psychoanalytikerin und Theoretikerin. Ihre Werke werden international ausgestellt, derzeit auch im Castello di Rivoli in Turin, das von Carolyn Christov Bakargiev geleitet wird. Gong Yan ist Kuratorin, Professorin am Shanghai Institute of Visual Art und ehemalige Chefredakteurin der Zeitschrift »Art World«. Seit 2013 ist sie die Direktorin der Power Station of Art in Shanghai. Ranjit Hoskoté aus Mumbai ist Schriftsteller, Kulturtheoretiker, Kunstkritiker und Kurator. Unter anderem gestaltete er mit dem ehemaligen Documenta-Leiter Okwui Enwezor die Gwangju Biennale 2008 und den ersten indischen Pavillon auf der Biennale in Venedig 2011. Simon Njami, geboren in Lausanne, ist Kurator, Dozent, Kunstkritiker und Romanautor und lebt in Paris. Er war unter anderem künstlerischer Leiter der ersten Kunstmesse in Johannesburg (2008), der Fotografie-Biennale in Bamako, der Dak'Art Biennale (2016/2018) und der São Paulo Biennale. Kathrin Rhomberg ist Kuratorin und leitete unter anderem den Kölnischen Kunstverein und die Secession in Wien. Außerdem ko-kuratierte sie die Manifesta 3 (2000) und verantwortete die 6. Berlin Biennale (2010). María Inés Rodríguez ist Kuratorin und lebt und arbeitet in São Paulo und Paris. Seit 2018 arbeitet sie Curator-At-Large für moderne und zeitgenössische Kunst am Museu de Arte de São Paulo (MASP). Die nächste Documenta soll vom 12. Juni bis zum 19. September 2027 stattfinden.

Der mit 25.000 Euro dotierte »HAP Grieshaber-Preis der VG Bild-Kunst« geht an Nana Petzet.

Seit Ende der 1980er Jahre entwickelt die 1962 geborene Konzeptkünstlerin Nana Petzet eine Methodik, die sie unter dem Begriff der »Rational Scientific Art« fasst. Sie realisiert Kunstprojekte, in denen sie das Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft auslotet. So entstehen Langzeitprojekte, die häufig in enger Kooperation mit Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen realisiert werden. Ihre Konzepte haben meist einen starken Lokalbezug und adressieren ortspezifische ökologischen Problematiken.Ein zentrales Thema, das Nana Petzet bis heute begleitet, ist die Abfallwirtschaft. Bereits 1995 entwickelte die Künstlerin mit dem »SBF-System« (Sammeln-Bewahren-Forschen) ein Gegenmodell zu dem damals neu eingeführten Recyclingsystem »Der Grüne Punkt«. In einem Selbstversuch sammelte sie den im Haushalt anfallenden Verpackungsmüll und untersuchte Möglichkeiten einer direkten Verwertung. Noch bis zum 7. Mai 2023 präsentiert sie in der Ausstellung »Saving« im Kunstverein Wolfsburg anhand von repräsentativen Originalobjekten und dokumentarischen Fotografien die Ergebnisse einer 2011 in Addis Abeba durchgeführten Feldstudie zur dortigen Recyclingkultur. 2015 und 2018 machte Nana Petzet mit der Aktion Lichtfalle Hamburg auf das Thema Lichtverschmutzung und Artensterben aufmerksam. Anlass bot das im Hamburger Hafen bei Events massiv eingesetzte blaue Licht. Das Projekt demonstrierte die tödliche Attraktivität des blauen Lichts auf nachtaktive Insekten und fand in Zusammenarbeit mit Biologen des Centrums für Naturkunde (CeNak) der Universität Hamburg statt.

Jürgen Wesseler, ein wesentlicher Wegbereiter zeitgenössischer Kunst, ist verstorben (1. März 1938 - 28. Februar 2023)

 

Man kennt das Kabinett in New York, aber wer kennt es schon in Bremen oder Bremerhaven“, so Thomas Deecke, der frühere Direktor des Museum Weserburg. Dass sich die Arbeiten der früh im Kabinett ausgestellten Künstler:innen heutzutage in den wichtigsten internationalen Museen befinden, sie mittlerweile ihre Documenta- Auftritte hatten und in unzähligen Doktorarbeiten diskutiert werden, konnte keiner voraussehen. Längst sind auch die Bremerhavener stolz auf das Kabinett für aktuelle Kunst.

Bereits 1967 gründete Jürgen Wesseler mit einer kleinen Gruppe von Interessierten das Kabinett für aktuelle Kunst, um dem konservativen Programm des 1886 gegründeten Kunstvereins ein progressives entgegenzusetzen. Der Ort: ein ehemaliges Ladengeschäft, 35 qm groß, im Schuhkartonformat, dessen vierte Wand aus einer Schaufensterfront besteht, im Erdgeschoss der Kunsthalle gelegen. Jürgen Wesseler gehörte seit 1969 zunächst dem Beirat des Kunstvereins an und von 1971 bis 2015 dem Vorstand, dessen Vorsitz er von 1987 bis 2012 innehatte. Höhepunkt seiner Aktivitäten war der Bau des 2007 eröffneten Kunstmuseums, in dem die Sammlung des Kunstvereins ausgestellt ist. Zwar hat Jürgen Wesseler das Kunstmuseum 2007 nicht allein dort hingestellt, aber man darf sagen: Ohne ihn würde es das Museum nicht geben. Nach dem Studium in Oldenburg, nach dreieinhalb Jahren beruflicher Tätigkeit in Hamburg, kehrte er 1964 nach Bremerhaven zurück, um im Stadtplanungsamt eine Stelle als Vermessungsingenieur anzutreten, wo er bis zum Ruhestand tätig war. 2008 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen und damit seine langjährige Arbeit für den Kunstverein sowie seine Verdienste als Begründer, ehrenamtlicher Betreiber und Ausstellungsmacher des Kabinetts für aktuelle Kunst gewürdigt.

Marina Abramovic/Ulay, Bas Jan Ader, Carl Andre, Bernd & Hilla Becher, Daniel Buren, Hanne Darboven, Isa Genzken, On Kawara, Wolfgang Laib, Jürgen Partenheimer, Guiseppe Penone, Sigmar Polke, Gerhard Richter, Richard Tuttle, Henk Visch, Elisabeth Wagner, Franz Erhard Walther, Lawrence Weiner, Jerry Zeniuk und viele andere haben das Kabinett für aktuelle Kunst bespielt. Doch Jürgen Wesseler hat die meisten dieser inzwischen international renommierten Künstler:innen bereits Jahre vor ihren ersten Erfolgen in die Hafenstadt geholt und es mit seinem Spürsinn und Engagement geschafft, sie für das kleine Ladenlokal zu begeistern und dort ihre Spuren zu hinterlassen. Die Bremerhavener Pionierleistungen setzen sich auch in der Gegenwart fort. In den letzten Jahren hat sich  das Programm des Kabinetts mit Unterstützung seines Sohnes Moritz verjüngt, und es wurden auch Positionen gezeigt, die sich von der Minimal  Art und Concept Art gelöst haben. So fanden Anri Sala, Adrian Schiess, Stephan Balkenhol, Martin Boyce, Björn Dahlem, Ceal Floyer, Manfred Pernice, Gregor Schneider, Andreas Slominski, Mischa Kuball, Paloma Varga Weisz,  Cathy Wilkes, Norbert Schwontkowski und Achim Bitter im Kabinett ein Ausstellungsdomizil. Jürgen Wesseler hat das Neue nie um des Neuen willen ausgestellt.  Auch hier kommt der ihn auszeichnende Rigorismus zum Tragen: „Allerdings müssen die Jungen in diesem Kontext bestehen können, alles andere wäre ein Vertrauensbruch gegenüber den älteren Künstlern.“ (Jürgen Wesseler)

Eine Vielzahl prägnanter Präsentationen entstanden. Ein besonderes Kabinettstück war eine der ersten Wandzeichnungen von Palermo (1969). Hier wurde erstmals im Kabinett nicht nur ein Ambiente mit Bildern geschaffen, sondern der Raum war mit der Arbeit identisch. Die  Bestückung des  Raumes mit umgestürzten Möbeln von Ruthenbeck (1971), die Wandzeichnungen von Tuttle (1990) waren weitere Höhepunkte. Oder Luc Tuymans, der im Kabinett eine Malerei schuf, die sowohl die Decke und den Fußboden, als auch die Wände des Raumes umfasste. 1991 hat Andreas Slominski in die Wand des völlig leeren Ausstellungsraumes eine  menschliche Hand eingemauert, so wird gesagt. 2005 betonierte Gregor Schneider die Fensterfront zu, ein Jahr später verhängte er gemeinsam mit Andreas Slominski das Fenster mit einer durchscheinenden Gardine.

Viele der  Ausstellungen beziehen sich auf die Geschichte des Kabinetts, auf bestimmte Ausstellungen, Werke und Wände. So reagierte schon Hanne Darboven im Jahr 1975 auf eine Arbeit von Lawrence Weiner, indem sie diese wörtlich zitierte. Oder Andreas Slominski und Tuttle bezogen sich auf  Blinky Palermo, Mucha auf Ruthenbeck. Oftmals spielen die Künstler:innen auf Früheres an, greifen Elemente auf, reihen sich in das bisher Stattgefundene ein und stehen dabei in einem imaginären Kontext zu der bisher entwickelten Ausstellungskonzeption. Martin Boyce betitelte 2006 seine Ausstellung „Broken Fall“, dies geschah in dem  Bewusstsein der Präsentationen von Bas Jan Ader, die im Kabinett in den 1970er Jahren stattfanden.

Zum 25jährigen Jubiläum 1992 würdigten das Museum Weserburg unter dem Titel „Vorhut aus dem Hinterland“ und die Städtische Galerie Göppingen die Arbeit Jürgen Wesselers. 2012, also 20 Jahre später, zeigte die Weserburg die Ausstellung „Kabinettstücke“, eine erneute Hommage an die Geschichte des Kabinetts. 2009 hat Gregor Schneider das  Kabinett im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt maßstabsgetreu nachgebaut. Dort kuratierte er gemeinsam mit Moritz Wesseler Ausstellungen des Kabinetts als Double, sei es von Reiner Ruthenbeck, Lawrence Weiner, Gerhard Richter, Isa Genzken oder Wolfgang Laib. Die Kunsthalle Bremen präsentierte 2018 Plakate,die zwischen den 1960er und 1980er Jahren von den Künstler:innen für das Kabinett für aktuelle Kunst gestaltet wurden. Ergänzt durch deren Entwürfe und Skizzen, Fotografien, Briefe und Notizen erzählen sie von der persönlichen Bindung zwischen Künstler:innen und Kurator.

Der besondere Charakter des Kabinetts für aktuelle Kunst liegt in der Kontinuität seines Programms begründet. Die Künstler:innen sind nicht mit fertigen Arbeiten angereist, stattdessen hat Jürgen Wesseler  gemeinsam mit ihnen die Ausstellungen konzipiert. Jenseits von kommerziellen Zwängen konnten und können die Künstler mit dem Raum experimentieren. Sie standen nicht unter Verkaufszwang, der Galerist schaute ihnen nicht über die Schulter, die Kritiker warteten nicht mit gespitztem Bleistift. So entdeckten die Künstler schnell den Reiz des an der Peripherie liegenden Kabinetts. Sie tauschten ihre Erfahrungen aus, reichten die Anschrift des Kabinetts weiter, der eine zog den anderen an. Jürgen Wesseler, ein unermüdlicher Motor und Förderer von Kunst in seiner Heimatstadt, hatte keine Vorbilder für die Ausstellungen, sogar der legendäre Konrad Fischer hatte seine Galerie noch nicht eröffnet.

Jürgen Wesseler war kein Langweiler, sondern jemand, der Publikum und Öffentlichkeit polarisiert.  Jürgen Wesseler liebte die trockene, norddeutsche Ironie, verknüpfte souverän Rigorismus und Humor, apodiktische  Aussagen mit einem Blinzeln in den Augenwinkeln. Weder Provinzkunst, noch einfach Kunst in der Provinz, sondern Ausstellungen auf allerhöchstem Niveau, kompromisslos und konsequent, das war sein Lebenselixier.

Vgl. artist Kunstmagazin, Interview mit Jürgen Wesseler:  Nr 17/1993 und Nr. 70/2007.