Artist Ausgabe Nr. 105

Portraits

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Interview

Wolfgang Ullrich

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Annika Kahrs

Interview

Prof. Dr. Wolfgang Ullrich, freier Autor und Kulturwissenschaftler, Foto: Annekathrin Kohout

Textauszug

Wolfgang Ullrich
J.Krb.: Jede Studentengeneration steht für eine bestimmte Haltung: politisch und kritisch, gleichgültig und cool oder konservativ und autoritätsgläubig. Heute beklagen insbesondere die philosophischen Fakultäten, die Studenten hätten ihr kritisches Potential bereits am Eingang der Alma Mater abgegeben. Welche Erfahrungen haben Sie mit den Studierenden gemacht?

W.U.: Im Moment, so mein Eindruck, ändert sich das bereits wieder. Doch werden politische Haltungen, emanzipatorische Konzepte oder gesellschaftliche Ideale eher als Optionen denn als Bekenntnisse begriffen. Das finde ich sehr interessant: Man wählt aus Möglichkeiten kaum anders als man sich für ein Markenlabel oder einen Produkttyp entscheidet. Manchmal kombiniert man ausgefallen, manchmal bleibt man einer Sache treu, manchmal ändert man bei nächster Gelegenheit seine Prioritäten. Das ist sehr pragmatisch. Und Folge sowie Ausdruck davon, dass in unserer marktwirtschaftlichen Wohlstandsgesellschaft fast alle Produkte mit Werten wie Nachhaltigkeit, Gesundheit, Reinheit, Wettbewerbsfähigkeit aufgeladen sind, umgekehrt also Werte zu einer kommodifizierten Sache geworden sind. Es wird tagtäglich suggeriert, man könne sich die Werte verdinglicht aneignen. Früher, mindestens bis in die 1970er Jahre hinein, hatte man eine Weltanschauung oder identifizierte sich mit einer Ideologie, war also Katholik oder Sozialist und glaubte, damit einer Wahrheit zu folgen, heute hingegen glaubt man, durch die jeweilige Entscheidung für einen Wert die Welt ein wenig im eigenen Sinne gestalten zu können.

J.Krb.: Sie halten Vorträge, nehmen an Symposien teil, haben viel publiziert. Was sind Ihre zentralen Fragestellungen und Themen?

W.U.: Mich interessiert die Funktionsgeschichte der Kunst. Was wurde ihr jeweils zugetraut und zugemutet? Und wie wurde das jeweils begründet? Wozu geriet die Kunst dadurch jeweils in Konkurrenz? Diese Konkurrenzen
finde ich besonders aufschlussreich. Warum also stand Kunst in einer Phase ihrer Geschichte in einer Sinnstiftungskonkurrenz zur Religion? Warum konkurriert sie heute oft mit den Verheißungen ambitionierter, aber durchaus alltäglicher Konsumprodukte? An welchen Stellen werden Künstler an die Stelle von Wissenschaftlern gesetzt? Wo traut man ihnen Troubleshooting oder Inspiration oder Reflexionskompetenz zu, um nur ein paar aktuell häufig vorgebrachte Ansprüche zu nennen.

J.Krb.: Konzentrieren sich die Museen auf ihr Kerngeschäft, die Präsentation, Pflege und wissenschaftliche Aufbereitung der Sammlung, sind sie zwar dem Ideal des Museums nahe, aber für den Besucher nicht so attraktiv. Konzentrieren sie sich auf das Event, stimmen die Einschaltquoten, aber man entfernt sich mehr und mehr von der eigentlichen Aufgabe. Kann diese Quadratur des Kreises durchbrochen werden?

W.U.: Grundsätzlich ja, aber dazu müssten die Museen personell viel besser ausgestattet sein. Das wiederum scheint angesichts der großen Zahl an Museen kaum realistisch. Also bleibt im Moment eigentlich nur eine Art von Zweiteilung: die einen legen den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf das Konservieren, Erforschen und Präsentieren der Sammlungen, sehen sich also primär im Dienst der Kunst und Künstler, die anderen denken das Museum vom Publikum und seinen Ansprüchen her, ja versuchen, auch Menschen für Museen zu interessieren, die sich bisher kaum dafür begeistern ließen.

J.Krb.: Kunst solle Gegenentwürfe zur Unwirtlichkeit der Realität formulieren, dem Fortschritt dienen, kritische Kommentare zur Gegenwart abgeben, politisch korrekt sein und die Menschen zum Besseren erziehen. Wird die Kunst zum Heilsbringer?

W.U.: Sie war es in der Romantik und in den Avantgarden viel mehr als heute. Damals glaubten viele wirklich daran, dass mit Kunst die Welt besser werden kann. Heute ist das noch Stoff für Sonntagsreden, für Katalogtexte und Drittmittelanträge, aber dass das jenseits von Formulierungsroutinen völlig ernst genommen wird, wage ich nicht zu behaupten. Von den von Ihnen genannten Ansprüchen scheint mir die Kunst am besten darin zu sein, kritische Kommentare zur Gegenwart abzugeben. Zumal wenn sie, wie schon angemerkt, die ihr zugestandene Freiheit nutzt. Kunst ist ein Bereich, in dem vieles, was anderswo selbstverständlich stattfindet, exponiert, übersteigert, verfremdet und damit zur Diskussion gestellt wird. Kunst ist heutzutage viel mehr ein Ort der Reflexion über den ‚status quo‘ als ein Ort, an dem neue Welten geschaffen werden.

J.Krb.: Sie sprechen von einer unseligen Allianz von Kunstreligion und Sozialdemokratie und sehen in den Kunstmuseen mittlerweile führende Institutionen engagierter Sozialpolitik. Bitte näher erläutern.

W.U.: Ob die Allianz unselig ist, weiß ich nicht. Eigentlich habe ich sie erst einmal nur konstatiert. So gibt es einerseits bei vielen die Überzeugung oder zumindest die Hoffnung, Kunst könne – irgendwie – positive Wirkungen auf diejenigen haben, die sich damit beschäftigen. Dass Kunst extreme Emotionen ausgleichen könne, sinnstiftend wirke, Erkenntnis vermittle,
gar zu Seelenheil führe, ist gerade in jenen schon angesprochenen Sonntagsreden immer wieder zu hören. Der Kunst wird damit übertragen, was man sonst am ehesten einer Religion zutraut, sie wird, mehr oder weniger ausdrücklich, zur Kunstreligion aufgeladen. Andererseits aber geben sich viele auch überzeugt davon, dass die besonderen Fähigkeiten und Kräfte der Kunst auf keinen Fall nur denjenigen vorbehalten bleiben dürften, die ohnehin schon mit ihr zu tun haben. Wenn nur Reiche und Gebildete von ihr profitierten, würde das soziale Gegensätze nur noch verschärfen. Also sei es umso wichtiger, allen die Chance zu geben, ein gutes Verhältnis zur Kunst zu finden. Damit erfährt das kunstreligiöse Denken eine sozialdemokratische Konnotation. Und damit lässt sich heute sehr viel legitimieren und fordern, vor allem in Museen. Vermittlungs- und Inklusionsprogramme wären ohne eine solche kunstreligiös-sozialdemokratische Mentalität überhaupt nicht vorstellbar.

J.Krb.: Kunstvermittlungsprogramme richten sich u. a. an Kindergartengruppen, Schüler, Studenten, Rentner, Flüchtlinge, Menschen mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen, Mütter mit Kind. Sie wenden sich gegen niedrigschwellige Vermittlungsangebote und betonen, Kunstvermittlung sei Einfallstor für eine politisch betriebene, rein nachfragefixierte Umstellung der Museen, die deren angestammte Aufgaben nicht mehr als relevant anerkennt. Wird die Kunst auf diese Weise instrumentalisiert, wird das Ausgestellte den Bedürfnissen des Publikums angepasst?

W.U.: Ja, das wird es sicher. Das ist auch nicht an sich schlecht, vielmehr stört mich genauso der Dünkel, welcher der Idee des reinen ‚white cube‘ zugrunde liegt, in dem ein Werk völlig bezuglos, ohne Rücksicht auf das Publikum, präsentiert wird. Doch geht mir die Nachfrageorientierung oft einfach zu weit. Wenn Kunstwerke sich beschweren könnten, wenn sie gar schreien könnten, um auf ihren Missbrauch aufmerksam zu machen, wäre es in vielen Museen ziemlich laut. Nach meinem von Ihnen angesprochenem Artikel haben sich bei mir auch mehrere Künstler gemeldet, ganz glücklich, weil sie sich und ihre Werke von den Konzepten der Kunstvermittlung schon oft desavouiert gefühlt haben. Sie schickten mir Beispiele, auf denen zu sehen ist, wie eine künstlerische Strategie heruntergebrochen und damit banalisiert wird.

J.Krb.: In vielfältiger Weise kritisieren Sie den Kunstbetrieb: Sei es die bedeutungsschwangere Überfrachtung der Kunst, sei es die Vernachlässigung des Kerngeschäftes durch die Museen, sei es der missionarische Eifer und Aktionismus von Kunstvermittlern und dergleichen mehr. Können Sie sich trotz Ihrer Kritik noch für die Kunst begeistern?

W.U.: Ganz ehrlich: Wer sagt, er sei begeistert von Kunst, steht bei mir unter dem starken Verdacht, Banause oder Aufschneider zu sein. Von Musik kann man begeistert werden, vielleicht auch von einem Film oder Roman, aber ein Gemälde, eine Skulptur, eine Graphik löst andere Emotionen aus, ja bereitet andere Erfahrungen. Ich kann einen neuen Blick auf ein Phänomen bekommen, kann Evidenz erleben, kann mich provoziert fühlen oder mich verblüffen lassen, wie mit einem Material oder einer Technik umgegangen ist. Dann staune ich, vielleicht bin ich auch seltsam berührt oder in eine nachdenkliche Stimmung versetzt. Oder bekomme Lust, selbst etwas zu machen. Aber begeistert? Das trifft es meiner Meinung nach nicht.

Joachim Kreibohm