Artist Ausgabe Nr. 105

Portraits

Dan Perjovschi | Michael Krebber | Walker Evans | Julius von Bismarck | Daniel G. Andújar

Interview

Wolfgang Ullrich

Page

Annika Kahrs

Portrait

Textauszug

Walker Evans
Ein unterschätztes Zentralgestirn der Fotografie: Mit der Ausstellung »Walker Evans: Tiefenschärfe« rückt das Josef Albers Museum Quadrat in Bottrop jetzt einen der wichtigsten Fotografen des 20. Jahrhunderts in den Fokus einer umfangreichen und tiefschürfenden Retrospektive, wie man sie sonst nur in Paris oder New York zu sehen bekommt. Walker Evans (1903-1975) ist den meisten als der amerikanische Fotograf bekannt, der in den Jahren der Großen Depression im Auftrag der Roosevelt-Regierung durch die Südstaaten gereist ist und das Elend der Landbevölkerung ebenso beiläufig wie voller Melancholie dokumentiert hat. So steht es in unzähligen Überblicksbänden über die Geschichte der Fotografie. Genau diese Bilder nahm übrigens im Jahr 1981 auch Sherrie Levine zum Ausgangspunkt ihrer Appropriation-Arbeit »Sherrie Levine: After Walker Evans«, in der sie sich Evans Vorlagen als eigene Arbeiten aneignete.

Doch Walker Evans auf diese kurze Phase seiner Karriere zu reduzieren, kommt einem ebenso ignoranten wie kurzsichtigen Schubladendenken gleich. Dass sein Werk ungemein komplexer ist, sein theoretischer Ansatz viel tiefschürfender und die künstlerischen Impulse, die von ihm ausgehen, bis in die unmittelbarste Gegenwart hineinreichen, zeigt jetzt die grandiose Ausstellung »Walker Evans: Tiefenschärfe« im Josef Albers Museum Quadrat in Bottrop.

Evans gelingt es, seinen im Moment entstandenen Aufnahmen Dauerhaftigkeit einzuimpfen. Und er beweist einen untrüglichen Sinn für Form und Balance, ganz ohne sich in kompositorischen Verspieltheiten zu ergehen. Genau das macht die mehr von Diskretion als von Sensationalismus geprägte Qualität seiner Arbeit aus. Seiner Heimat Amerika hat er immer wieder den Spiegel vorgehalten. Jedoch als Künstler und nicht als Reporter oder Journalist. Die Dokumentarfotografie als künstlerisches Medium hat er so salonfähig gemacht.

Als primär sozial engagierten Fotografen hat Evans sich nicht gesehen. Seine Bilder entstanden zwar mit großem Respekt vor den Porträtierten,
jedoch nie mit dem Zweck, lediglich soziale Missstände zu illustrieren: »Die Bilder, die mich interessieren, gehen über die bloße Aktualität hinaus. Sie werden länger Bestand haben, weil sie sich eben nicht dem Zeitgeist andienen, der immer nur über die soziale Lage lamentiert, alles sei so schlimm, die Armut und die Ausbeutung der Menschen.«

Evans ist unter den Fotografen des 20. Jahrhunderts ein ganz Großer, der seine Heimat Amerika stets aus einer intellektuellen Distanz heraus fotografisch interpretiert hat. Seine zeitlosen und formal überzeugenden Aufnahmen zeigen das, was ist: Amerika pur. Ohne falsches Pathos,
Beschönigung oder Ideologie. Nicht mehr und nicht weniger.

Nicole Büsing / Heiko Klaas