Portrait

Tower of Song, 2012 aus der Serie »Infra«, Digitaler C-Print, 183 x 229 cm,Privatsammlung.
Courtesy of the artist, Jack Shainman Gallery, New York and carlier | gebauer, Berlin/Madrid

Textauszug

Richard Mosse
Der irische Fotograf Richard Mosse war 21 Jahre alt, als er nach Sarajevo reiste, um Spuren des Balkankriegs aufzulesen und zu dokumentieren. Zuerst wollte er als Fotojournalist die Geschichten betroffener Familien erzählen, wie in einem Porträt der Deutschen Welle weiter zu lesen ist. Doch bald wurden ihm die Grenzen seiner Reportagen bewusst. »Zeigen und sagen, so wie es ist« - das journalistische Credo birgt Probleme. Wie es war, ist für immer vorbei. Fotografie kann der Beleg eines Moments vergangener Anwesenheit sein, mehr noch bekundet sie Abwesenheit. Was ist ein Fakt? In welchem Kontext? Schafft Fiktion am Ende die wahrhaftigere und wirksamere Geschichte? Fakt und Fiktion leiten sich von machen und herstellen ab. Gegeben ist kaum etwas, wo der Mensch seine Hand im Spiel hat. Und wiedergeben erfolgt mittels Sprachfiltern, Rezeptionsfiltern und Kulturfiltern.

In seinem Versuch, die Bildsprache der »Dokumentation« zu überwinden, setzte Mosse an der technischen Seite des Mediums an. Er benutzte anfangs ein altes Kameramodell samt Stativ und Umhang. Dies veränderte sein Arbeiten. Architektur trat in den Fokus, um Leerstellen zu markieren, die nach dem Abzug der Soldaten entstanden waren. Das Symbol rückte in den Mittelpunkt. Die Befragung des Mediums wurde zum zentralen Strang. Mosse war in der Kunst angekommen.

Mosse macht eine Parallelwelt sichtbar, die wir mit bloßem Auge nicht erkennen können. Die Infrarotkamera bildet ein Lichtspektrum ab, das unserem natürlichen Sehvermögen verschlossen ist. Die optische Ebene wird zum Sinnbild unserer Erkenntnis und wirft grundsätzliche Fragen auf. Die viel beschworene Macht des Bildes ist in dessen Potential begründet, Dinge sichtbar zu machen. Fotografie belegt vorgefundene Wirklichkeit nicht, sondern schafft eine eigene. Sie taugt nicht zur Beglaubigung, obwohl ihr hartnäckig der Status eines Dokuments zugewiesen wird. Mosse zeigt in seiner Fotokunst, dass es zur Visualisierung komplexer Gegebenheiten und untergründig wirkender Kräfte geeigneter Sehhilfen bedarf. Vergleichbar dem Hubble-Teleskop zur Erkundung des Alls sind auch zur visuellen Erfahrung der so fernen wie nahen Krisen- und Konflikt-Räume auf der Erde Prothesen für das Auge nötig. In der Serie »Infra« ist das Kolorit ein Portal für die Sinne, das in Räume des Verstehens führt. Als wolle der Fotograf anschaulich machen, dass jeder Erkenntnis eine Erregung vorausgeht, ein Kerngedanke der Kunst, aber auch ein Tatbestand für jede Form von Erlebnis und Erfahrung.

Die Farbigkeit ist bei Mosse kein Oberflächenphänomen, sondern ein Analysebefund. Wie jeder Befund bedarf er der Deutung. Zum Licht der Aufklärung gehört nicht nur der suggestive Blitz, sondern auch der kühle Blick der Vernunft, nicht nur Evidenz, sondern auch gedankliche Entwicklung und allmähliche Erschließung des Sichtbaren. Die Fotos von Mosse entsprechen dieser Dialektik in ihrem Wechselspiel von überwältigender Farbpracht und glasklarer, messerscharfer Detailzeichnung. Die Signale müssen Kopf und Körper erreichen. Die Fotoarbeiten schaffen durch Konstruktion, Abstraktion und Projektion Vorstellungsräume. Sie machen ihre Konstruktivität und den Status der Analyse sichtbar und offenbaren auf diesem Weg auch den Konstruktionscharakter des Dargestellten. Sie rufen das Verlangen auf, zu begreifen, was ergreift. Die Fakten, die das Bild schafft, brauchen einen kritischen Resonanzraum. Der untertänige Blick im Wirkungsradius der Immersion kippt um, wenn er die begriffliche Prüfung durchläuft. Es ist eine Illusion zu glauben, dass das Bild ohne Wortsprache daher- und auskommt.

Auch Mosse kontextualisiert seine Fotoarbeiten. Die von ihm selbst verfassten Wandtexte sind Interpretationen der in den Bildern thematisierten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Damit werden sie zur Deutungsgrundlage für die Fotografien. Verengen sie damit den Blick oder ermöglichen sie ihn erst? Die Texte offenbaren schon in ihrem Sprachgestus den Charakter von Narrativen, von eigenen parallelen Strängen, die mit den Bildstrecken zusammenspielen. So sehr beide zusammengehören, so deutlich belegen sie doch auch die jeweils eigene Sprachqualität von Wort und Bild. Nicht zuletzt dokumentieren sie die Wirkung der Wortsprache im Bild und des Bildhaften im Begriff.

Rainer Beßling