Artist Ausgabe Nr. 91

Portraits

Jan Peter Hammer | Yuji Takeoka | Joachim Grommek | John Smith | Yael Bartana

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Knut Eckstein

Edition

Joachim Grommek

Portrait

Mary Koszmary, 2007, one channel super 16mm film transferred to video, Duration: 10.50 min., Courtesy Annet Gelink Gallery Amsterdam and Foksal Gallery Foundation Warsaw

Textauszug

Yael Bartana
Wie wäre es, wenn heute 3.300.000 Juden nach Polen übersiedeln würden? 3.300.000 Menschen, deren Vorfahren vielleicht einmal dort gelebt und gearbeitet haben, oder - und das ist das Entscheidende in diesem Zusammenhang - auf dem Gebiet des heutigen Polen systematisch aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln von den Nationalsozialisten ermordet worden sind. Welche Auswirkungen hätte das auf das Land selbst und den dort bis heute virulenten Antisemitismus? Welche Auswirkungen hätte es auf den Rest Europas? Kann man das Rad der Zeit zurückdrehen und den Zustand vor dem Holocaust künstlich wieder zum Leben erwecken? Oder ist diese Vorstellung hoffnungslos naiv? Würden die Menschen tatsächlich am Warschauer Bahnhof stehen, jubeln und Tränen vergießen, »wenn die erste Eisenbahnladung von Juden zurückkehrt«, wie es sich der jüdisch-amerikanische Schriftsteller Philip Roth in seinem 1993 erschienenen und heftig umstrittenen Buch »Operation Shylock. Ein Bekenntnis« ausgemalt hat? Dieses provokante Modell eines umgekehrten Zionismus entwirft auch die 1970 in Afula, Israel geborene und heute in Amsterdam und Tel Aviv lebende israelisch-niederländische Künstlerin Yael Bartana.

Im Jahre 2007 hat Bartana die Organisation »Jewish Renaissance Movement in Poland« (JRMiP) gegründet. Seitdem hat sie die hochsymbolische Denkfigur einer jüdischen Renaissance im früheren zentraleuropäischen Kernland jüdischer Kultur nicht mehr losgelassen. Bartanas Idee entbehrt dabei keineswegs einer historischen Grundlage. Das Gebiet des heutigen Polen war rund 1000 Jahre lang das Hauptsiedlungsgebiet der von Kreuzrittern und intoleranten Fürsten aus Westeuropa vertriebenen europäischen Juden. Und ihr wirtschaftliches, geistiges, religiöses und mystisches Zentrum. Trotz der oft feindlich gesinnten, einfachen bäuerlichen Bevölkerung gelang es der jüdischen Minderheit unter dem Protektorat toleranter polnischer Fürsten lange Zeit, funktionierende Strukturen im Handel, der Bildung und der Religionsvermittlung aufzubauen. Über Jahrhunderte bildeten die polnischen Juden den Mittelstand in der feudal geprägten polnischen Gesellschaft.

Yael Bartanas intensive Beschäftigung mit der Thematik ist eng mit der Geschichte ihrer eigenen Familie verknüpft: Ihre Vorfahren stammen aus Polen. Ihre Urgroßeltern wurden während der NS-Herrschaft in einer polnischen Synagoge ermordet. Sie selbst hat das Land mehrmals auf längeren Reisen besucht. Eine wichtige Rolle spielt auch der Umstand, dass israelische Jugendliche in der Regel kurz vor dem Eintritt in die Armee nach Polen geschickt werden, um dort Konzentrationslager zu besichtigen. Ein näherer Kontakt mit der Bevölkerung wird auf diesen Reisen unterbunden. Eine Annäherung der beiden Völker findet so gut wie nicht statt. Schwer ausrottbare Ressentiments bleiben auf beiden Seiten bestehen.

Bartana selbst stellt lieber Fragen statt eindeutig Stellung zu beziehen. Sie stellt private und öffentliche Rituale und habitualisierte Handlungsmuster, gerade auch des israelischen Staates, kritisch auf den Prüfstand. Ihre Arbeiten sind bei aller politischen Brisanz und Ernsthaftigkeit aber immer auch von spielerischen und humorvollen Elementen durchzogen.

Nicole Büsing / Heiko Klaas