vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 61

Portraits

Karim Noureldin | Oystein Aasan | Daniel Maier-Reimer | Matthias Weischer | Francis Alys | Teresa Margolles

Interview

Susanne Titz

Page

Silke Wagner

Künstlerbeilage

Florian Slotawa

Essay

Textauszug

»Wirklicher als die Wirklichkeit.«
Dieser Film ist ideologisch, gerade indem er vorgibt, authentisch und bewertungsfrei erzählen zu können, was ohne Kontextualisierung und Wertung gar nicht zu erzählen ist.
Er übernimmt das von Spielberg vorgegebene Authentizitätsdogma, und zwar mit der ganz gegenteiligen Absicht: nämlich nicht vom fast vollendeten nationalsozialistischen Projekt des »Untergangs der jüdischen Rasse« zu berichten, sondern vom Untergang eben dieses Projekts, und uns dabei das dafür zuständige Personal komplett vorzuführen: vom ringenden Speer über den zynischen Goebbels, die naive Traudl Junge, den verführten Hitlerjungen, den fanatischen SS-Mann bis zum erratischen Hitler.

Hitler, zu dem uns seit Karl Krauss nichts einfiel, wird damit plötzlich genauso diskutabel wie das Unglück, das mit ihm über die Deutschen gekommen sein soll. Es ist bedrückend, dass sich ein Schauspieler wie Bruno Ganz für diese Kolportage hergegeben hat. Bedrückender freilich ist, dass sein Hitler in genau jener kulttauglichen Gestalt auftritt, die dieser selber Zeit seines Lebens inszeniert hatte: als der große Visionär, der am Unverständnis und Ungenügen seiner Zeit tragisch scheitert. Der Film operiert also als Verdoppelung von ohnehin schon Inszeniertem, aber vermutlich ist er deshalb so erfolgreich. Viel erfolgreicher jedenfalls als künstlerische Versuche, die davon ausgehen, dass uns die Geschichte nur dann erreichen kann, wenn sie zugleich durch die Geschichte ihrer Vermittlungen hindurch erzählt wird. Art Spiegelmans Comic »Maus« wäre hierfür genauso ein Beispiel wie die Arbeiten Christian Boltanskis, Harry Walters oder, in harmloseren Zusammenhängen, Sophie Calles oder Andreas Slominskis. Gerade im Bestehen darauf, dass sich Geschichte nicht eins zu eins erzählen lässt, zumal eine, deren zentrales Anliegen die Zerstörung von Erinnerung war, wird an einem emphatischen Wahrheitsbegriff festgehalten, und Wahrheit ist eben etwas anderes als die Echtheit von Kulissen

Harald Welzer