vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 125

Portraits

Nora Olearius | Jean-Luc Mylayne | Marina Naprushkina | Michael Müller

Interview

Meike Behm

Page

Dieter Froelich

Essay

Textauszug

»Die Kunst ist Form«
Die traditionelle Form-Inhalt Relation wird vor etwas mehr als hundert Jahren gekappt. Verantwortlich: Marcel Duchamp. Als der Erfinder des Readymade 1917 ein Urinal in einem Sanitärgeschäft kauft und als Kunstwerk ausstellt, das er zuvor mit R. Mutt signiert und als »Fountain« betitelt hat, revolutioniert er die herkömmlichen Vorstellungen von Künstler und Kunstwerk. Der Schöpfungsprozess ist hier ein rein geistiger – Kunst ist, was der Künstler zum Kunstwerk erklärt –, und doch radikalisiert sein Gestus in gewisser Weise noch den demiurgischen Prozess.

Nur die innige und bedeutsame Symbiose von Form und Inhalt scheint unwiderruflich suspendiert. Duchamp erklärte zu seinen Readymades in einem Gespräch mit Alfred H. Barr Jr., damals Direktor des MoMA in New York, er habe sie gewählt, weil er ihnen völlig »unaffiziert« gegenüberstand, sie ihm mithin in ihrer Form gleichgültig waren.

Das verstärkt indes in diesem besonderen Fall nur die Intention, die der Künstler mit seiner Wahl verband: Deutlich zu machen, wie sehr die Bedeutung eines Werks abhängig ist von seinem Kontext. In anderen Worten: Ein Urinal auf einer Toilette ruft danach, benutzt zu werden. Ein Urinal in einem Museum dagegen, gedeutet zu werden. Paradoxerweise ist in diesem spezifischen Fall die völlige Vernachlässigung der Form durch Duchamp ein Akt höchsten Formbewusstseins, prononciert sie doch die Idee, um die es ihm bei seinem Werk ging, und bringt es so zu größter Entfaltung.

Liest man im neu erschienenen Kunstform, Band 270, mit welchen Vorstellungen das Kuratoren-Kollektiv »ruangrupa« aus Indonesien an die Ausrichtung der documenta 15 in 2022 geht, muss man fürchten, dort eine Neuauflage der letzten documenta zu erleben. Wieder scheint das Gut Gemeinte statt des Gut Gemachten im Vordergrund zu stehen. Aber, wie Robert Phaller richtig beobachtet: In der Kunst zählt nicht, wie man es meint, sondern es zählt, was man tatsächlich tut. Es darf nicht um das Aufladen eines Kunstwerks mit politischer Bedeutung gehen oder um das Aufladen der Kunst mit Theorie. Genau durch diese Art von politisierter Kunst wird die Kunst recht eigentlich entpolitisiert und ihrer politischen Durchschlagskunst beraubt. Nach der Bedeutung eines Kunstwerks suchen heißt, nie die Form aus den Augen zu verlieren. Genau das ist die Essenz von Susan Sontags Essay »Against Interpretation« von 1964, in dem es heißt: »Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst«.

Natürlich kann man in der Kunst Probleme wie die Klimaerwärmung oder die Migration thematisieren, wenn man es beispielsweise so macht wie Julian Charrière oder Hiwa K. Wer je das Bild des jungen Charrière auf einem riesigen Eisberg in der Antarktis gesehen hat, klein, einen Bunsenbrenner in der Hand, mit dem er das Eis traktiert und zum Schmelzen bringt, wird dieses Bild nicht mehr vergessen. Eine Aktion, die in Größenwahn und Lächerlichkeit, Hybris und Anmaßung zwischen Slapstick und Tragödie navigiert. Und mehr über uns Menschen im Zeitalter des Anthropozäns verrät als Dutzende von Büchern! Oder das Röhrenensemble von Hiwa K auf der letzten documenta auf dem Friedrichsplatz in Kassel, in dem Migranten eine provisorische Schlafstatt finden konnten. Zuerst einmal eine beeindruckende Installation aus Stahl und Technik, im Weiteren ein Werk, in dem sich wie unter einem Brennglas die Ungerechtigkeiten der Welt in Zeiten eines globalen Kapitalismus sammeln.

Die Bedeutung ist hier der Form unverwechselbar eingeschrieben. Fehlte sie, gäbe es kein Werk. Dem kanonischen Wort von Gottfried Benn folgend: »Die Kunst ist Form. Oder sie ist nicht.«

Michael Stoeber