Polemik

Textauszug

»Leben ohne Kunst«
Warum kein Verständnis die Kunst betrifft.

Der Mangel an Schönheit beeinträchtigt unsere Daseinsfreude und unsere Arbeitsfreude, und dieser Mangel ist es, woran die Menschheit leidet.« Was Joseph August Lux 1908 in »Der Geschmack im Alltag. Ein Buch zur Pflege des Schönen« schrieb, ist hoffnungslos veraltet und dennoch wahr. Selbst der wohlhabende Teil der Menschheit hat sich allerdings in den letzten zweihundertfünfzig Jahren daran gewöhnen müssen, dass es keinen Sieg des Schönen geben wird, der Begriff inzwischen Geschmackskonventionen unterschiedlicher Güte, Milieus, philosophischer Rechtfertigungsversuche und dem Marketing untergeordnet ist. Reichtum an Schönheit wirkt zwar weiterhin elitär oder streut Sehnsüchte und verweist auf Celebrity und Prominenz. Die Mehrheit der Erdenbürger hat allerdings Wichtigeres zu tun. Kriege, Hunger, Umweltverschmutzung, Klimakatastrophe, Finanzkrisen und Flüchtlingsströme lassen die Ausbildung eines persönlichen Geschmacks für die meisten Menschen unmöglich erscheinen. So suchen diejenigen, die es sich leisten können, in ihren kurzen Erholungspausen ein kleines Stück besseres Leben, ein bisschen Daseinsfreude orientiert an Schönheit – verstaubte avantgardistische und futuristische Parolen, die den ästhetischen Glanz des Krieges und die Gefahr eines totalen Untergangs unter dem Primat ihres eigenen Kalküls predigen, außen vorgelassen.

Was haben der Schriftsteller Michel Houellebecq und der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich gemeinsam? Beide vergleichen die bildende Kunst unserer Zeit in vielfältiger Hinsicht mit der repräsentierenden Auftragskunst und Hofmalerei vergangener Zeiten. Das gesellschaftskritische Avantgarde-Denken, dessen heilende Kräfte oder therapeutische Wirkung, der Kampf mit der Kunstgeschichte und für das Museum haben nach ihrer Meinung mehr oder weniger ausgedient. Die Gesellschaft werde mit Kunst nicht mehr zu einem besseren Leben bekehrt, Daseins- und Arbeitsfreude selbst des gutmütigsten Rezipienten durch künstlerische Geistesarbeit nicht gesteigert. Während Ullrichs neuestes Buch schon mit seinem provokanten – oder sollte man besser sagen absichtsvoll reaktionären Titel »Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust« (2016) kunstvoll auf sich aufmerksam macht, nimmt der Künstlerroman »Karte und Gebiet« (französische Originalausgabe 2010) von Houellebecq erst im zweiten Teil Fahrt auf, wenn Franz, die Kunsthändlerfigur des Romans, mit »gereizter, fast unerbittlicher Stimme« äußert, dass »schon seit langem (...) der Kunstmarkt von den reichsten Geschäftsleuten der Welt beherrscht« werde. Er kommt zu dem Resultat: »Wir sind in die Epoche der Hofmalerei des Ancien Régime zurückgefallen.« Zwei Seiten später folgert dieselbe Figur des Romans: »Wir sind sowieso an einem Punkt angelangt, wo der Markterfolg jeden Mist rechtfertigt, ihn anerkennt und sämtliche Theorien ersetzt.«

Wenn man dem Vorangestellten folgen möchte, gelangt man schnell zu der Vermutung, einige der bessergestellten Mitbürger unserer vermeintlich demokratischen Wohlstandsgesellschaft hätten ihr kritisches Denken verloren, hielten nur an den real existierenden Verhältnissen fest, therapierten sich bestenfalls mit individuellem Konsum und erfreuten sich an ihrem persönlichen Eigentum. Als Fußnote und letzte Drehung könnte man hier anführen, dass ein hochbetagter Schriftsteller wie Martin Walser auf der diesjährigen lit.COLOGNE es für notwendig erachtete, zu betonen: »Ich bin dem Kritisier-Soll entronnen.« (Köln, 10.3.2016, im Rahmen der Lesung: »Ein sterbender Mann« ) Warum sagte er das? Weil für ihn Literatur und Religion Verklärung der realen Verhältnisse bedeutet, wie er auf seiner Lesung anfügte. Die Realität habe das bitter nötig. Warum? So möchte man Walser fragen. Weil man weder dem ernst gemeinten, kritischen Impetus der Moderne mehr folgen noch die reinen Machtverhältnisse kultureller und politischer Gegenwart nachzeichnen und ewig wiederholen möchte.

Roland Schappert