Portrait

untitled (I ran a), 1984, Schreibstift und Tusche auf Papier, 35,5 x 26 cm, © Raymond Pettibon

Textauszug

Raymond Pettibon
Amerikanische Mythologien oder was von ihnen heute noch übrig geblieben ist, sind seit Ende der 1970er Jahre auch Gegenstand von Zeichnungen, Gemälden und Collagen des heute in New York lebenden Künstlers Raymond Pettibon. In seinem primär zeichnerischen Werk verarbeitet Pettibon die Obsessionen, Affekte und Erregungszustände seiner Landsleute zu lakonischen, mitunter aber auch bitterbösen künstlerischen Kommentaren. Sein eigenes Verstricktsein klammert er dabei natürlich nicht aus. Auf der 1984 entstandenen Zeichnung »Untitled (I ran a)« etwa ist ein grimmig dreinschauender, mittelalter Mann mit einem doppelläufigen Gewehr und einem Zigarettenstummel im Mundwinkel zu sehen. An der Wand hinter ihm klebt ein Aushang mit der Botschaft »Looters will be shot« (Plünderer werden erschossen). Pettibon spielt damit auf das umstrittene Stand-Your-Ground-Gesetz an. Das bloße Gefühl, in Gefahr zu sein, reicht demnach in den USA schon aus, einen vermeintlichen Eindringling ganz legal zu töten.

Homo Americanus«, so lautet der Titel der weltweit bisher größten und tiefschürfendsten Präsentation seiner Werke in der mit den Hamburger Deichtorhallen assoziierten Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg. Die Ausstellung wird im Anschluss im Museum der Moderne in Salzburg zu sehen sein. Der Berliner Kunsthistoriker Ulrich Loock als externer Kurator hat für die Schau mehr als siebenhundert Zeichnungen aus allen Schaffensperioden Pettibons ausgewählt. Präsentiert werden diese teils gerahmt, teils aber auch ganz nonchalant und clusterartig an die Wand gepinnt. Außerdem sind Fanzines, Plattenhüllen, Flyer, Gemälde, Videoarbeiten und Wandzeichnungen zu sehen. Rund eintausend Exponate kommen so zusammen. Der artistische Kosmos dieses 1957 in Tucson, Arizona geborenen, aber in Hermosa Beach an der kalifornischen Küste aufgewachsenen künstlerischen Autodidakten wird in Hamburg auf gleich vier Etagen ausgebreitet. Die Schau unternimmt dabei den Versuch, Pettibons ausuferndes Werk – rund 20.000 Arbeiten soll er bislang geschaffen haben – sowohl in eine chronologische als auch in eine motivische Ordnung zu bringen. Manche Motive, etwa die bei Sammlern besonders beliebten Surfer, tauchen bereits in den 1980er Jahren auf. Sie kommen jedoch bis heute immer wieder vor und bilden so eine der augenfälligsten Konstanten in Pettibons Produktion.

Betreibt Pettibon primär eine Kritik an den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen, geht es ihm in erster Linie darum, sein Unbehagen mit der tagesaktuellen Politik zu Papier zu bringen? Für den Sammler Harald Falckenberg, der die Ausstellung ins Rollen gebracht hat, verbietet sich eine derart eindimensionale Schubladisierung des Künstlers: »Ich glaube das einfach nicht. Seine Arbeit ist eher eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Paranoia der amerikanischen Welt, mit Themen, die ihn aufgeregt oder geärgert haben und die er sich von der Seele zeichnen und schreiben musste«, so Falckenberg in einem Interview mit der Zeitschrift Monopol. Mit Klischees, voreilig angepappten Labels, knackigen Zuschreibungen und Attributen hat Pettibon immer schon zu kämpfen gehabt. Gerne wird er als Comiczeichner oder angeblich primär dem »Punk-Rock« verhafteter Künstler vereinnahmt. Doch diese Phase war schnell vorbei. Dennoch wird er bis heute noch häufig im Punk-Kontext verortet. Sicherlich dazu beigetragen hat die Tatsache, dass Pettibon, der an der UCLA einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften gemacht hat und danach vier Jahre lang als Mathematiklehrer tätig war, den Weg in die Hochkulturgefilde des Systems Bildende Kunst über politische Karikaturen, Konzertflyer und Plattenhüllen gefunden hat. Angeregt durch seinen älteren Bruder Greg Ginn, dem Gründer der Punk-Rock-Band »Black Flag« und des Plattenlabels »SST Records«, entwarf Pettibon zwischen 1978 und Mitte der 1980er Jahre tatsächlich zunächst Drucksachen für die Musikwelt. Unter anderem das aus vier schwarzen Balken bestehende Logo von »Black Flag« und Albumcover für die kunstaffine Noise-Rock-Band »Sonic Youth«.

Er selbst hat folgende Formel gefunden, um sich und sein kompromissloses künstlerisches Tun zu beschreiben: »Ich bin womöglich einer der letzten Künstler auf der Welt, der seine Werke wirklich selbst herstellt. Die meisten Künstler sind heute nur noch Manager, das sind CEOs, Unternehmer, die alles an ihre Angestellten delegieren. Wie aber kann man das, was einem im Kopf rumgeht, jemand anderem exakt vermitteln? Ich will nicht andere Leute anleiten. Lass sie ihren verdammten Kram selbst auf die Reihe kriegen. Ich bin kein Bulle. Ich hätte so viele andere Karrieren einschlagen können, jenseits von Kunst und Wirtschaft, aber ich habe mich für die Kunst entschieden. Warum? Weil ich da mit einem leeren Blatt Papier und den primitivsten Instrumenten loslegen kann. Viele Jahre lang konnte ich mir gar nichts anderes als billiges Papier und Tusche leisten, also habe ich das benutzt. Während alle anderen auf ihren Gitarren rumgezupft haben, buchstäblich Wochen damit verschwendet haben, einen neuen Trick auf dem Skateboard zu beherrschen oder Science Fiction zu lesen, habe ich an mir selbst gearbeitet – und das war noch vor dem Internet.«

Nicole Büsing / Heiko Klaas