vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 99

Portraits

Asco | Pierre Huyghe | Yevgenia Belorusets | Tobias Rehberger | Ulla von Brandenburg

Interview

Moritz Wesseler

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Uschi Huber

Essay

Textauszug

»Möchtegern-Kunst«
Als Susanne Gaensheimer den plakativ-provokanten Film-, TV-, Opern- und Theaterregisseur Christoph Schlingensief für den Deutschen Pavillon der Venedig Biennale 2011 nominierte, reagierte dieser in einem Interview mit dem Berliner »Tagesspiegel« prompt überrascht: »Ich bin doch kein bildender Künstler«. Posthum gewann der im August 2010 an Lungenkrebs gestorbene Schlingensief dann dort trotzdem den Goldenen Löwen. Kein Wunder: In der Jury saßen damals so intime Kunstkenner wie der US-amerikanische Filmregisseur John Waters (dazu später mehr). Heute werden »Gemälde«, richtiger: Teile von Schlingensiefs Bühnenbildern, von der Galerie Hauser & Wirth weltweit mehr oder weniger erfolgreich vertrieben – wohl gemerkt: als bildende Kunst! Und gerade haben die Berliner KunstWerke eine groß angelegte Retrospektive seiner ästhetischen Arbeit auf gleich vier Etagen ihres Ausstellungshauses präsentiert. Worum aber handelt es sich, wenn ein erklärter Nicht-Bildender-Künstler - der übrigens u. a. bei der TV-Serie »Lindenstraße« sein filmisches Handwerk gelernt hat - so prominent im Kunstbetrieb verhandelt wird? Vielleicht um das spätestens seit den 1990er Jahren ausgerufene »Crossover« in der Kunst?

Da aber ist Skepsis angesagt, denn ein Charakteristikum dieser künstlerischen Crossover war damals, dass es tatsächlich bildende Künstler und Künstlerinnen waren, die dann ihre Arbeit mit Elementen und Strategien vermischten, die eigentlich in anderen, nicht unbedingt kunstfernen, aber dennoch anderen Betriebssystemen zu Hause waren. Dan Peterman etwa nutzte ökologische Techniken des Recyclings für seine Kunst, Andrea Zittel agierte gleichsam als Architektin, Tobias Rehberger integrierte das Design in seine Arbeit, Rirkrit Tiravanija u.a. das Kochen, Christine & Irene Hohenbüchler die (pädagogische) Sozialarbeit, Jutta Koether die (dilettantische) Musik. Signifikant ist die Richtung dieser Crossover, die, wie gesagt, immer von der Kunst ausgingen und dort letztlich, trotz des oft geäußerten Anspruches die Trennung von Kunst und Leben aufzulösen, auch verblieben. Signifikant ist diese Bewegung, weil sie zumindest dieses garantiert: Die grenzüberschreitenden Protagonisten starten ihr Crossover auf der Basis einer professionellen Kunstauffassung, eines studierten Know-hows und haben ihr Hand- und Denkwerk eben nicht z. B. in massenmedialen Sendeanstalten gelernt. Das Problem aber scheint zu sein, dass diese Crossover die Pforten geöffnet haben für solche, die andere Ausgangspunkte als die Kunst haben, etwa Mode, Photographie oder Musik.

Raimar Stange