Essay

Berlin-Mitte: Gemälde oder Graffiti?, Foto: Raimar Stange

Textauszug

»Eine Erinnerung an den erweiterten Kulturbegriff«
Der Aufruf »Kultur für alle!« und die streitbare Rede von einem »erweiterten Kulturbegriff« gaben in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland den kulturpolitischen Ton an. Vor allem der legendäre Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann stritt damals erfolgreich für diese Idee. Hoffmann schrieb 1979 in seinem Buch »Kultur für alle«: »Unter Erweiterung des Kulturbegriffes ist nicht eine Art Zellteilung oder Vermehrung von Unterbegriffen zu verstehen, sondern die Ablösung der Tradition, die den Kulturbegriff ausschließlich an die Institutionen der Kultur bindet, an das Museum, das Theater ...«. Raus auf die Straße, um es salopp zu formulieren, soll die Kultur sich bewegen, rein „ins alltägliche Leben“, hin auch zu den nicht gebildeten und unvermögenden Menschen. Das Kino wurde in dieser Folge als Kulturort aufgebaut, das Theater fand plötzlich auch Open Air auf urbanen Plätzen statt und die bildende Kunst entdeckte den öffentlichen Raum für sich. Und dort wurde Kultur, so damals noch die Hoffnung, von allen Menschen und nicht nur von der bürgerlichen Bildungselite rezipiert. Konsequent fährt dann auch Hoffmann fort: »Dem erweiterten Kulturbegriff liegt darüber hinaus die Absicht zugrunde, den traditionell kleinen Kreis der Kenner zu einem großen Kreis der Kenner zu machen.«

Stokfiszewki betont zudem, dass seine Erweiterung des Kunstbegriffes in zwei Richtungen geht: »Die erste Richtung bezeichnet die Verwendung einer politischen Gattung (oder einer Gattung aus einem anderen Bereich) im Bereich der Kunst. Die zweite Richtung bezeichnet das Eingreifen der Kunst in aktuelle Geschehnisse aus dem Bereich der Politik (oder aus einem anderen Bereich)«. Genau diese doppelte Stoßrichtung hat übrigens schon die künstlerisch-aktivistische Arbeit von Joseph Beuys charakterisiert, man denke nur einerseits an seine ästhetisch u.a. an der Fluxus-Bewegung orientierte Kunst und andererseits an sein konkretes politisches Engagement bei den »Grünen«, als dessen Mitbegründer er gilt. Bevor man (aktivistisch) »erweiterte« Kunst, wie es heute all zu oft geschieht, also als kunstfeindlich diffamiert, sollte man sich erst mal kurz auch an Joseph Beuys erinnern, immerhin eine Ikone der deutschen Nachkriegskunst.

Raimar Stange