Portrait

Unending Lightning / Unendlicher Blitzschlag, 2015 – 2021, Drei-Kanal-Videoinstallation HD, 3:4, 16:9, 3:4, Farbe, ohne Ton, ca. 6.5 Stunden, Installationsansicht aus: »Maschine
im Stillstand«, Kunstsammlungen Chemnitz, Courtesy die Künstlerin und Galeria Albarrán Bourdais, Madrid, Foto: Alexander Meyer

Textauszug

Cristina Lucas
»Maschine im Stillstand« nannten Künstlerin und Kuratorin die Einzelausstellung an den Kunstsammlungen Chemnitz, die zentrale Schlüsselwerke und neue Arbeiten in einem eng verwobenen Parcours zusammenstellte. Der Titel öffnet bewusst einen breiten Assoziationsraum, der sich von Stichworten wie Postindustrialisierung, Insolvenz, Totalschaden, Serverausfall, Notbeatmungsgerät bis hin zum verlangsamten Jetstream denken lässt, vor allem aber irgendwie mit Apokalypse. Die Erde kann und darf nicht stillstehen. Doch ist fühlbar, dass das alte kapitalgetriebene Mühlrad, langsam aber sicher zum Stehen kommen wird.

Besonders deutlich und komplex zeigt das Lucas’ großformatige, dreiteilige Rauminstallation »Unending Lightning (Unendlicher Blitzschlag)«, die wie ein aufgeklapptes Triptychon riesige Räume füllt. Sie war auf der Manifesta12 in Palermo zu sehen und ist vielleicht eine der wichtigsten Videoarbeiten der letzten 20 Jahre. In diesem medialen »Antikriegsdenkmal bewegter Bilder« setzt sie sich zum Ziel, die Geschichte der Bombenangriffe auf Zivilbevölkerungen seit Erfindung der Luftfahrt möglichst vollständig zu erfassen. Während auf der linken Tafel akribisch die Datierungen der Bombenangriffe und die Zahl der Opfer erfasst werden, bildet der Mittelteil die topographische und sich immer stärker verdichtende Zerstörung der Städte ab. Auf der rechten Seite sind dokumentarische, journalistische und kulturhistorische, aber auch künstlerische Bilder zu den Ereignissen versammelt. Die Arbeit verzichtet gänzlich auf Ton und macht in gewisser Weise fassungslos ob ihres Umfangs, in den man dennoch unweigerlich hineingesogen wird. Es herrscht eine berührte, meditative Stille beim Publikum, das lange verharrt. Es entsteht förmlich ein Raum für Empathie. Lucas zeigt historisch fundierte Zusammenhänge zwischen Schauplätzen und Chronologien völlig neu. Diese Geschichte erscheint wie eine »Naturgeschichte der Zerstörung«, eine Kette sich endlos wiederholender Gewalt. Dabei wurde dem Menschen mit der Fähigkeit des motorisierten Fliegens die Verwirklichung eines Menschheitstraums gegeben. So surrt in einem kleinen Nebenfilm, der zur Installation gehört, eine kleine »Piper Prometeo« über Barcelona und zieht ganz nüchtern und propagandalos hinter sich ein Werbebanner mit der physikalischen »Luftauftriebsformel«.

Für das Langzeitprojekt »Unending Lightning« arbeitet Lucas mit unterschiedlichsten Forschern, Wissenschaftlern und Communities zusammen, verknüpft offizielle, wissenschaftliche, journalistische und private Informationsquellen. So wird die historische und visuelle Datenbank ständig erweitert. Die Arbeit dauert mittlerweile über 6.5 Stunden und gliedert sich in vier große Kapitel. Für Chemnitz wurde ein neues Kapitel begonnen, das mit der Pandemie 2020 ansetzt. Für Spanier*innen ist vor allem das Ereignis der Bombardierungen des schutzlosen baskischen Ortes Guernica durch die deutsche Legion Condor, am 26. April 1937 eine traumatische Kollektiverinnerung. In Deutschland, dem Land, das nach dem 1. Weltkrieg auch den 2. Weltkrieg ausgelöst hat, hat fast jede größere Stadt ihre traumatische Erfahrung mit Luftkrieg erlitten. Bis heute sind die Zerstörungen und ihre Narben in die DNA der Stadtgrundrisse eingeschrieben. Sie waren eine Antwort auf endlose Grausamkeiten der deutschen Wehrmacht, so die Bombardierungen Warschaus, Coventrys, Londons oder des mit Flüchtlingen überfüllten Stalingrad durch die 1200 Flieger der deutschen Luftwaffe im August 1942. Sie kosteten übervierzigtausend Menschen das Leben und hatten ähnlich unvorstellbare Verwüstungen hinterlassen wie diejenigen von Köln, Hamburg, Kassel oder Dresden. Bis kurz vor Kriegsende sind Städte, wie Chemnitz am 5. März 1945, zerstört worden. Aktuell sind es die nicht mehr endenden Kriege im Nahen Osten, Afghanistan, Syrien, Irak, Palästina, Libyen u. a., die täglich stattfinden.

Auch Cristina Lucas arbeitet in vielen Medien, darunter Performance, Fotografie, Skulptur und Malerei. Mit ihrer Arbeit erinnert die Künstlerin daran, dass Kunst immer auch ein Weg der ästhetischen Verführung ist, der dazu beiträgt, uns bewusst zu machen, was in unserer Gesellschaft passiert. Interessiert an den Mechanismen von Macht, analysiert sie wichtige politische und wirtschaftliche Strukturen und seziert sie, um die bestehenden Widersprüche zwischen der offiziellen Geschichte, der Realität und der kollektiven Erinnerung aufzudecken. So entwickelt sie immer neue Darstellungsweisen von Weltkarten und Kartografien, die Macht-, Sprach-, Geschlechter- und Energieverhältnisse, oft sehr humorvoll, ins Bild rücken.
»Maschine im Stillstand«. Was wäre, wenn wir die überhitzte Kapitalismus- Maschine zum Stillstand bringen könnten. Würden wir die Geschichte der Zukunft damit umschreiben können? So wie es viele Science-Fiction-Visionen literarisch und filmisch inszeniert haben? Erfundene Welten haben sich immer auf die Zukunft ausgewirkt. Die Rolle der Kunst ist dabei vielleicht klein, aber die Weltsicht von Lucas fordert eine stille Mitte auf, sich zu einer neuen Revolution aufzumachen, die nicht zuletzt auch internationale Solidarität und ökologische Empathie einfordert, die uns in den letzten Jahrzehnten zunehmend abhanden gekommen zu sein scheint.

Sabine Maria Schmidt