Artist Ausgabe Nr. 106

Portraits

Oliver Ressler | Michael E. Smith | Christiane Gruber | Joan Mitchell | Timur Si-Qin

Interview

Yilmaz Dziewior

Page

Hannah Regenberg

Portrait

Detail view / Untitled (Axe Effect), 2014

Textauszug

Timur Si-Qin
In seinen Arbeiten verbindet er ganz unterschiedliche kulturelle und motivische Felder. Stark interessiert an den vielfältigen Verflechtungen von Kultur, Biologie und Materialität, führt er verschiedene Zeitebenen - von der Vor- und Frühgeschichte des Menschen bis in die aktuelle Gegenwart - zusammen und macht so morphologische Transformationsprozesse, aber auch biologische Konstanten für den Betrachter erfahrbar. Daneben untersucht er immer wieder auch die Phänomenologie der spätkapitalistischen Warenwelt in ihren diversen Auffächerungen. Marketingstrategien, Methoden der Produktgestaltung, des Product-Placement oder der Werbung stehen häufig im Zentrum seiner Arbeiten. Dabei greift er auf industriell vorgefertigte Materialien und Werkstoffe zurück, die für jedermann, jederzeit und überall verfügbar sind. Sei es im Drogeriemarkt um die Ecke oder beim Spezialversender im Internet. Viele seiner Arbeiten entstehen auch in enger Zusammenarbeit mit Industriedienstleistern wie Messebauern oder Großfotolaboren.

Timur Si Qin distanziert sich von einer einseitig ausgerichteten, seiner Meinung nach veralteten Kunstrezeption, die sich ihrem Gegenstand auch im 21. Jahrhundert immer noch nahezu ausschließlich anhand eines jahrzehntelang eingeübten Instrumentariums aus Dekonstruktivismus, Phänomenologie, Psycho-analyse, kritischer (marxistischer) Theorie und Semiotik nähert. »Es ist keineswegs so, dass ich am Einfluss der Ideologien auf das, was die Welt zusammenhält, nicht interessiert wäre oder diesen leugnen würde«, sagt er, »doch das ist nur die halbe Wahrheit. Ich denke, Levi Bryant bringt es auf den Punkt, wenn er versucht, unsere Aufmerksamkeit stärker auf die materiellen Dimensionen unserer Wohn- und Lebensräume zu lenken.« (3)

Timur Si-Qin lotet in seiner Arbeit konsequent die ambivalenten Möglichkeiten, aber auch die Limitierungen einer zeitgenössischen Kunstpraxis aus, die für sich in Anspruch nimmt, sich praktisch alles, was uns auf der Welt umgibt, als Material einzuverleiben und diese Elemente miteinander in Beziehung zu setzen. Sei es im Original, als digitaler Scan, geprintete 3D-Replika oder copyrightfreies Stockfoto. Im Vorwort zu dem 2015 erschienenen Sammelband »Realismus|Materialismus|Kunst«, der sich mit dem heutigen Realismus und den ihn umgebenden, teils widersprüchlichen Theorien beschäftigt, kommen die Herausgeber um Armen Avanessian zu der Feststellung, dass die zeitgenössische Kunst danach strebt »die Kontingenz der Bedeutung, die Mannigfaltigkeit der Interpretation und die Möglichkeit der Veränderung zu erkären und fördern: Zeichen werden aus der Reserve gelockt, Interpretationen ermutigt, Repräsentationen werden durch assoziative Netzwerke, die ihnen eine Bedeutung geben, mobilisiert – Netzwerke, die immer im Fluss sind und somit dafür sorgen, dass die Bedeutung nie feststeht oder stabil ist. Dadurch gewährleisten die zeitgenössische Praxis, Kritik und Theorie der Kunst, dass die Erfahrung immer und notwendigerweise durch das symbolische Feld vermittelt wird.« (5) Eine Einschätzung, die eindeutig auch auf das Werk Timur Si-Qins zutrifft.

Nicole Büsing / Heiko Klaas