Artist Ausgabe Nr. 106

Portraits

Oliver Ressler | Michael E. Smith | Christiane Gruber | Joan Mitchell | Timur Si-Qin

Interview

Yilmaz Dziewior

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Hannah Regenberg

Portrait

La Chatière, 1960, Öl auf Leinwand, 194,3 x 149,5 cm, © Estate of Joan Mitchell, Collection of the Joan Mitchell Foundation, New York, Foto: Günter König

Textauszug

Joan Mitchell
Es ist nicht so, dass Joan Mitchell (1925 – 1992) zu Lebzeiten kein Erfolg beschieden gewesen wäre. Schon früh wurde sie in wichtigen Galerien gezeigt. Museumsankäufe sowie -ausstellungen ließen ebenfalls nicht lange auf sich warten. Bis zu ihrem Lebensende 1992 trieb sie zielstrebig die Weiterentwicklung in ihrem Werk voran. Dennoch war ihr Name bis vor kurzem nur den wenigsten geläufig. Und wenn, dann eher als marginale Figur im Umfeld des amerikanischen Abstrakten Expressionismus.

Ihre Wiederentdeckung scheint um 2000 einzusetzen. 2001 eröffnet das Whitney Museum of American Art mit »The Paintings of Joan Mitchell« eine Ausstellungstournee durch Amerika, begleitet von einem umfangreichen Katalog. Europa wird über den Handel aufmerksam. 2007 stellen Hauser & Wirth in London mit »Joan Mitchell. Leaving America. New York to Paris 1958 – 1964« ihr Frühwerk vor, ebenfalls flankiert von einem Katalog, der einen wegweisenden Text von Helen Molesworth enthält. 2009 folgt die erste große Schau in Deutschland in der Kunsthalle Emden. Patricia Albers veröffentlicht 2011 »Joan Mitchell. Lady Painter«, eine minutiöse Biografie über ihr aufregendes Leben zwischen New York, Paris und dem späteren Domizil in Vétheuil. Damit rückte die Person hinter den Gemälden stärker in den Fokus, was Yilmaz Dziewior angeregt haben mochte, seine im Kunsthaus Bregenz und anschließend im Kölner Museum Ludwig (noch bis 21. Februar) präsentierte Retrospektive mit dem Untertitel »Her Life and Paintings« und ausgewähltem Archiv- und Filmmaterial zu versehen. Inzwischen wurde aber auch bei Christie´s eines ihrer Bilder aus dem Jahr 1960 für 11,9 Millionen Dollar versteigert, was sie schlagartig zur teuersten Malerin der Welt machte, bevor sie von Georgia O´Keeffe wieder überholt wurde. Trotzdem wird es vermutlich noch eine Weile dauern, bis sich der Name Joan Mitchell ebenso klangvoll und selbstverständlich im Kanon der Kunstgeschichte eingebürgert haben wird wie die Namen Willem de Kooning, Jackson Pollock oder Franz Kline.

Es geht ihr um die Erschaffung eines Raumes, in dem der Blick vor und zurück springt mit Hilfe von Repoussoir-Effekten, die durch dunkle oder nach vorne drängende Farbwerte die Tiefenräumlichkeit betonen. In Bezug auf die Raumwirkung scheint auch Hans Hofmanns Theorie des »Push and Pull« eine Rolle zu spielen. Die in einzelne Felder aufgeteilten Leinwände und sogar die Farben in »The sky is blue, the grass is green« von 1972 und »Closed Territory« von 1973 erinnern unübersehbar an ihren ehemaligen Lehrer am Art Institute of Chicago. Aber auch Matisse mit seiner flächigen Verklammerung von Innen- und Außenraum ist ihr wichtig. Von nun an wächst der Bildraum vom Diptychon über das Triptychon bis zum vierteiligen Quadriptychon immer mehr in die Breite, wobei die einzelnen Tafeln innerhalb der mehrteiligen Arbeiten unterschiedliche Formate haben, als ob sie an ihrer Autonomie festhalten wollten. Gleichzeitig spielt die Differenz der Formate mit der räumlichen Wirkung: Es entsteht so etwas wie ein perspektivischer Effekt; die äußeren Tafeln verbinden sich optisch und schieben sich vor oder wahlweise auch hinter die beiden mittleren.

Im Museum Ludwig ist der große Oberlichtsaal den vier Quadriptychen aus den Jahren 1980 – 1981 gewidmet. Umgeben von diesen jeweils etwa drei Meter mal siebeneinhalb Meter großen Riesenformaten nimmt man Mitchells Farbexplosionen nicht mehr nur mit den Augen wahr – der ganze Körper wird in einen Raum aus Farbe, Bewegung und Licht getaucht. Und wird dabei möglicherweise von einer Art purer Freude an der Schöpfung ergriffen. Aus breiten, mal dicht, mal luftig gesetzten, klar definierten Pinselhieben erwächst ein Gefühl für das Elementare. Mit wenigen Farben, Blau, Gelb, Grün, viel Weiß und ein wenig Schwarz schafft sie überwältigende Räume, in denen die Weizenfelder, Himmel und sengenden Sonnenstrahlen van Goghs und die Seerosenbilder Monets nachhallen.

Sabine Elsa Müller