Artist Ausgabe Nr. 95

Portraits

Ulrich Pester | Wolfgang Tillmans | Tomás Saraceno | Eva Kotátková

Interview

Gregor Jansen

Page

Roland Schappert

Edition

Julia Schmid

Portrait

Kate sitting, 1996, Courtesy Galerie Buchholz, Köln/Berlin, Foto: © Wolfgang Tillmans, © Kunstsammlung NRW, Ausstellung: Wolfgang Tillmans, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düssledorf, K 21

Textauszug

Wolfgang Tillmans
Eine derartig heterogene und komplexe Bilderschau wie diese ist trotz herausragender Einzelbilder eigentlich weniger zur Betrachtung da, sondern zum Lesen. Die Ausstellung kann als Versuchsanordnung verstanden werden – als Atelier des Künstlers, der hier in Düsseldorf 15 Tage lang persönlich aufgebaut hat. Aber auch als Labor der Kunstnutzer, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten die ihnen erschließbare Geschichte zwischen Tukan-Porträt und alten Socken, Venus und Vulva herauslesen können. Selbst das Muster der denkmalgerechten Reparatur an einer kriegsgeschädigten Säule wird zu einem erzählerisch aufgeladenen Bild: Zwischen helleren, neu eingefügten quadratischen Auffüllungen und den kleineren Schussspuren beginnt das in düsterem schwarzweiß gehaltene Bild »Pixel Bullet Holes« eine Erzählung von Krieg und Frieden, kulturellem Anspruch und verdächtiger Pathosformel. Eine Überraschung stellt allerdings der inmitten einer Bilderwand montierte goldene Gong dar. Er sei ein »Fast-Bild« und eine »Noch-nicht-Skulptur«, sagt Tillmans. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass er – unbespielt – ebenso sehr ein flaches Zeichen für einen Klang ist, wie ein Photo ein zweidimensionales Zeichen für die abgebildete mehrdimensionale Realität ist.
Aber muss ein Photo eigentlich eine Realität abbilden? Noch bei den monochromen, geknickten Photopapierreliefs trägt die Vermutung, sie bildeten wenigstens reines Licht ab. Was aber die Riesenformate der »Freischwimmer«-Serie darstellen ist völlig rätselhaft. Gänzlich ohne irgendeine Photo-Optik erstellt, zeigen sie nur Spuren von Farbpigmenten auf photochemisch aktiviertem Papier, wirken aber wie Tinte im Meer oder feinste Spuren unbekannten Lebens in ultranah gezoomten Großvergrößerungen. Als »Haarquallen« bezeichnet sie Tom Holert im nur im Internet lesbaren Katalog-Essay und betont den biomorph, ja anthropomorph wahrgenommenen und sexualisierten Charakter dieser unbestimmbaren Arbeiten, von denen einige auch im legendären Berliner »Berghain« zu finden sein sollen.

Wolfgang Tillmans thematisiert den Unterschied von breitem Realitätsstrom und dessen immer ausschnitthafter bildlicher Aneignung. Dabei kann ein Photokünstler auf eigenes oder schon vorgefundenes Medienmaterial zurückgreifen. Denn die Bilder der Welt bestimmen das Weltbild so stark, dass sie selbst bereits zum realen Bestand der Dinge gezählt werden können und somit einer weiteren, interpretierenden Abbildung zugänglich sind.

Wolfgang Tillmans stellt die Frage, was überhaupt Bilder sind und was sie können. In seiner lustvollen Aufmerksamkeitsschulung scheint alles gleichwertig: Nicht nur das schöne Photo oder der schnelle
intime Blitz, auch das Photo-Material selbst, und eben das Universum der Reproduktionen, die Zeitungen und die Magazine, die Kataloge und das Internet. Das Interesse an solch einem individuellen Umgang mit der Bilderflut ist weltweit. Allein 2012 stellte Wolfgang Tillmans in Glasgow, Sao Paulo, Zürich, Stockholm und Bogota aus. Und die Ausstellungen weiten sich über ihren Ort hinaus: In Düsseldorf kann jeder Besucher einen opulenten Bildband gratis mitnehmen und ein weiterer Katalogteil mit Dokumentation und Ausstellungsessay ist frei im Netz verfügbar, unter www.kunstsammlung.de/wolfgang-tillmans. In die Ausstellung real integriert ist ein älterer Katalog der Tate-Galerie. Die Tillmans-Schau von 2003 trug den Titel »If one thing matters, everything matters«. Das gilt eigentlich bis heute für das ganze Werk: Das Interesse am Detail schärfen und dann auf den Zusammenhang richten. Denn Ästhetik ist wortgemäß vor allem »Aisthesis«. Und die Wahrnehmung immer wieder neu zu justieren, ist nicht die geringste Aufgabe nicht nur dieser, sondern aller Kunst.

Hajo Schiff