Artist Ausgabe Nr. 88

Portraits

Katarina Seda | Franziska C. Metzger | Fabrice Samyn | Rosemarie Trockel | Stefan Wissel

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Zilla Leutenegger

Künstlerbeilage

Dirk Dietrich Hennig

Portrait

Rote Zeit, 2011, Tischlerplatte, MDF, Jute, Lack, 220 x 330 x 5 cm, Installationsansicht »Latente Ressourcen«, Galerie der Stad

Textauszug

Stefan Wissel
»Auch eine stehengebliebene Uhr kann noch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigen; es kommt nur darauf an, dass man im richtigen Augenblick hinschaut.« Dieser ebenso hintersinnige wie bestechend wahre Satz des österreichisch-jüdischen Essayisten, Kaffeehausjournalisten und Aphoristikers Alfred Polgar (1873-1955) bringt eine simple Wahrheit auf den Punkt, die Stefan Wissel gut gefallen dürfte. In seiner Ausstellung »Latente Ressourcen« (noch bis zum 2. Oktober 2011) in der Galerie der Stadt Remscheid präsentiert der in Düsseldorf lebende Künstler, Jahrgang 1960, ein dreidimensionales Bild von einer Uhr, die eben diese Eigenschaft verkörpert: Stehengeblieben zu sein. Und zwar genau um 15.58 Uhr beziehungsweise 3.58 Uhr. Einmal am Tag, während der Öffnungszeiten der Galerie, könnte es dem Besucher also passieren, zufällig zur »richtigen Zeit« an der Arbeit »Rote Zeit« (2011) vorbeizukommen und gar nicht zu bemerken, dass es hier um einen gefrorenen Moment geht. Eine Aufhebung des Kontinuums. Zu jeder anderen Zeit aber verbreitet Wissels Behauptung eines monochrom roten Bildes eine melancholische, durchaus auch subtil autoritäre Atmosphäre. Allein die Abmessungen, 2,20 x 3,80 m, vermitteln ein Gefühl von Absurdität und Erstarrung. Hinzu kommt die Materialität der Arbeit. Eine Unterkonstruktion aus schwerem Holz ist mit grobem Leinen bespannt. Das matte, stumpfe Rot, das die Arbeit wie eine Haut überzieht, trägt zusätzlich zum Eindruck von Schwere und Rätselhaftigkeit bei.

Stefan Wissel entnahm die motivische Vorlage für diese Arbeit einer Videoarbeit des schweizerisch-amerikanischen Künstlers Christian Marclay, in der für einen kurzen Moment ein weißer Konferenzraum mit einer in die Wand eingelassenen Uhr zu sehen war. Wissel hat die Proportionen der Uhr übernommen, den Farbton modifiziert und ihre Maße anhand der vorgefundenen Bildinformationen in Originalgröße umgesetzt. Eine an sich schon konzeptuell verschachtelte Situation - in diesem Fall ein Still aus Marclay’s Video, das selbst eine Situation zitiert, die sowohl realen als auch fiktionalen Ursprungs sein könnte und in seinem Katalog als Foto abgebildet ist - hat er in ein konservatives Bildmedium, konkret in ein klassisches Tafelbild, zurückübersetzt. Durch diese Transformation wird ein komplexes, surreales Gefühl generiert, das die konstruierten Relationen der von Marclay ins Spiel gebrachten Bedeutungszusammenhänge umgeht und anstelle dessen die einzelnen Assoziationsketten in einer dunklen, mysteriösen Geschichte bündelt. Die Tatsache, dass er die gesamte Arbeit in dieses satte Rot getaucht hat, reflektiert Wissels Anliegen, die in der Bildvorlage verkapselte Atmosphäre einer politisierten Zeit plakativ sichtbar zu machen. Durch die formale Umsetzung wird diese allerdings wieder in einen verklärten Raum verschoben.

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Stefan Wissels Arbeiten sind formal und inhaltlich gleichberechtigt. Sensibilisiert für ein Gefühl, eine Idee oder einen aufgeschnappten Satz auf der Straße, entsteht mit Hilfe industrieller Fertigungstechniken, der genauen Festlegung von Farbe, Form und Material und der präzisen Platzierung der Arbeit im Raum ein komplexes, logisch aufeinander abgestimmtes Werk. Beispielhaft für diese Komposition aus Leichtigkeit und Tiefe, formaler Eleganz, Witz, Musikalität und Präzision ist besonders die extra für die Ausstellung in Remscheid entstandene Arbeit »Singing Commercials in the Street« (2011). An einem Hanfseil hängt von der Decke herab eine sich leicht im Windzug drehende, mattgelbe runde Metallscheibe mit gelaserter Schablonenschrift. Der Betrachter liest den zunächst irritierenden Satz »Singing Commercials in the Street«. In der Arbeit materialisiert sich Sprache in ihrer Übersetzung in körperliche Präsenz. Bei aller augenscheinlichen Leichtigkeit und Heiterkeit hinterlässt die Arbeit beim reflektierenden Besucher ein leicht beunruhigendes Gefühl. Stefan Wissels Spiel mit Aufmerksamkeiten, Ambivalenzen, sensiblen Bedeutungsverschiebungen und klaren Formbestimmungen lässt den Remscheider Ausstellungsparcours zu einem kohärenten Erlebnis werden. Keine überflüssigen Schnörkel und Anekdoten lenken von der inhaltlich und formal äußerst präzise ausbalancierten Dichte dieser reifen Werkpräsentation ab.

Nicole Büsing / Heiko Klaas