vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 94

Portraits

Julia Schmid | Tue Greenfort | Kerstin Cmelka | Frank Stella | Kris Martin

Interview

Marius Babias

Page

Kornelia Hoffmann

Edition

Kerstin Cmelka

Interview

Textauszug

Marius Babias
J.Krb.: 1969 gründete sich der Neue Berliner Kunstverein. Zu einer Zeit, in der sich die großen gesellschaftlichen Umbrüche ankündigten, die dann 1968 zur Studentenbewegung führten. Die erste Ausstellung des n.b.k. war mit Alfred Hrdlicka (1970). Von 1975 bis 1994 bestimmte Lucie Schauer die Geschicke des Vereins, ihr folgte 1995 Alexander Tolnay, den Sie 2008 ablösten. Das klassische Operationsfeld der Kunstvereine hat sich ausgedünnt, sie haben längst ihre exklusive Rolle in der Vermittlung zeitgenössischer Kunst verloren, die auch in Museen, Kunsthallen, Städtischen Galerien, auf Messen und dergleichen präsentiert wird. Wie definieren Sie Rolle und Aufgabe der Kunstvereine heute?

M.B.: Seit der Gründung 1969 steht der Neue Berliner Kunstverein für einen dynamischen Ansatz, der die Bereiche von Kunstproduktion und Kunstvermittlung miteinander verbindet und im öffentlichen Leben Berlins fest verankert. Das Hauptanliegen war und ist, aktive Öffentlichkeiten und immer neue Publikumsschichten für die Kunst zu gewinnen. Programmatisch tritt der n.b.k. dafür ein, Themen der Zeit zu erschließen und Diskurse zu setzen, die zu einem strengen inhaltlichen Profil und zur internationalen Vernetzung beitragen. Der n.b.k. mit seinen beiden Sammlungen Artothek und Video-Forum ist von seinen Möglichkeiten und Anlagen her viel mehr als »nur« ein Kunstverein, er erfüllt semi-museale Aufgaben. Der n.b.k. ist ein Ort der ästhetischen Erfahrung, der Auseinandersetzung und der Diskussion, ein öffentlicher Ort für den Dialog zwischen KünstlerInnen und BürgerInnen. Es ist uns gelungen, die Mitgliederzahl deutlich zu erhöhen und jüngere Publikumsschichten zu gewinnen. Um dem n.b.k. eine neue Legitimation zu geben, wurden in den letzten Jahren die Weichen Richtung Kunstvermittlung und Partizipation der Öffentlichkeit gestellt, wurde für die nachrückende Generation ein lebendiger Ort der Kunstszene geschaffen, mit dem sich jüngere Berliner KünstlerInnen ebenso identifizieren können wie der internationale Diskurs. Ich sehe den n.b.k. als einen Ort der Zeitgenossenschaft, als eine Werkstatt neuer Ideen mit dem Ziel, Kunst als existenziellen Teil unseres Lebens zu begreifen.

J.Krb.: Oftmals richten Galerien Ausstellungen in Instituten komplett ein, sind für Leihgaben zuständig und finanzieren Kataloge. Entstehen hier Abhängigkeitsverhältnisse, greifen die alten Feindbilder: Dort die Kunst als Ware und hier die wahre Kunst oder sind Galerien willkommene Kooperationspartner?

M.B.: Ein verdecktes Finanzierungsmodell durch Galerien kommt für uns nicht in Frage. Der Neue Berliner Kunstverein ist eine unabhängige und öffentlich geförderte Institution und kein Jagdrevier für kommerzielle Interessen. Galerien und Sammler leisten wichtige Arbeit und garantieren KünstlerInnen den Lebensunterhalt. Institutionen filtern die Essenz und bilden den kunsthistorischen Kanon. Bei diesem dualen System sollten wir es belassen und weder eine gegenseitige Abhängigkeit noch eine Opposition zwischen der »wahren Kunst« und der »Ware Kunst« konstruieren. Die Kunst hat in den letzten 20 Jahren einen enormen Aufschwung genommen, allerdings als Teil der Lifestyle-Industrie. Institutionen stecken in der prekären Situation, dass sich die Kunst in Unterhaltung, in Event, in Imageproduktion verwandelt hat, und doch müssen wir auf gesellschaftliche Relevanz und auf ästhetische Werte achten. In diesem Spagat müssen wir unser Programm gestalten.

J.Krb.: Schon lange wird in Berlin nicht mehr das Marode kultiviert und das Ungepflegte gepflegt. Mondän, schick und hedonistisch scheint en vogue zu sein. Die Party im Pauly Saal, das Wagyu Steak im Grill Royal, die Kelly Bag von Hermes sind längst nicht mehr verdächtig. Vermissen Sie mitunter den Charme der rostigen Nägel, sehnen Sie sich nach den alten Zeiten?

M.B.: Ich lebe und arbeite in der Gegenwart. Im gegenwärtigen Berlin lassen sich zwei Entwicklungen beobachten, die unser Leben prägen. Auf der einen Seite die Errichtung von innerstädtischen Konsuminseln und die Konsolidierung hedonistischer Lebensstile. Auf der anderen Seite eine neu entstandene Welt der Marginalisierten, deren Arbeitskraft außer Wert gesetzt und für überschüssig erklärt wurde. Die echte Metropole besteht nicht aus Town-Houses, Geschäftsmeilen, Spree-Restaurants, Clubs und Trend-Boutiquen, sondern aus sozialen Handlungen. Der historische Ausgleich zwischen dem alten und dem neuen Berlin entsteht erst im Bewusstsein gesellschaftlicher Umwälzungen und Herausforderungen, egal ob in 500-Quadratmeter-Lofts oder am Mac-Desktop von Post-Studio-Artists.

J.Krb.: Kann die Kunst mit ihren ureigenen Mitteln wirksam Stellung zu gesellschaftspolitischen Themen beziehen oder erst dann Widerstand leisten und zum Störfaktor werden, wenn sie den Vorrang der Praxis des Lebens vor der Ästhetik postuliert, wenn sie unmittelbar versucht politisch zu wirken?

M.B.: Der 2008 vollzogene Generationswechsel im Neuen Berliner Kunstverein überschnitt sich mit der in Deutschland geführten Debatte um bürgerschaftliches Engagement in der Zivilgesellschaft sowie um die Funktion der Kultur und ihrer Institutionen, eine Debatte, die bis heute anhält. Die konzeptionelle Neuausrichtung des n.b.k. schließt an den internationalen Diskurs des »New Institutionalism« an, der die Möglichkeiten bestehender Kunstinstitutionen befragt und neue institutionelle Handlungsräume öffnet. Ein bürgerschaftlich organisierter Kunstverein nimmt in diesen Debatten eine besondere Rolle ein, wenn er als ein Ort der Gemeinschaftlichkeit und des Bündelns von Engagement geführt wird und sich somit bewusst abwendet von Kulturkonsum und sich stattdessen an Konzepten kultureller Teilhabe im öffentlichen Interesse orientiert. Darin besteht unser Politikverständnis.

Joachim Kreibohm