vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 94

Portraits

Julia Schmid | Tue Greenfort | Kerstin Cmelka | Frank Stella | Kris Martin

Interview

Marius Babias

Page

Kornelia Hoffmann

Edition

Kerstin Cmelka

Portrait

To Whom, 2012, Installationsansicht, Kunstmuseum Bonn, Foto: Achim Kukulies, © Sies + Höke, Düsseldorf

Textauszug

Kris Martin
Dieser Künstler braucht kein Atelier. Seine Werke entstehen in seinem Kopf. Allerdings nicht in einem Akt angestrengten Nachdenkens, wie ihn uns, den Kopf schwer in die Hand des aufgestützten Armes gelegt, in exemplarischer Weise Auguste Rodins »Denker« vor Augen führt, sondern vielmehr in der Begegnung mit der Welt. Im Umhergehen, Wandern und Schauen und im Nachdenken über das, was der Künstler sieht und was ihm begegnet. Ein solch schauendes Nachdenken ähnelt dem Denken der griechischen Peripatetiker. Aus diesem Grund schätzt es der 1972 im belgischen Kortrijk geborene Kris Martin auch nicht besonders, wenn man ihn einen Konzeptkünstler nennt. Da am Anfang seiner Kunst immer sein sich an den Erscheinungen von Welt und Wirklichkeit entzündender Blick steht, nennt er sich lieber einen Materialisten oder noch lieber einen Bildermacher und Bilderfinder. Wohl gemerkt nicht einen Bild-Erfinder, obwohl er das natürlich auch ist. Denn kaum einen Gegenstand, der ihm begegnet und den er zu Kunst macht, lässt er so, wie er ist. Erst seine sanften und subtilen Eingriffe und Interventionen geben den Dingen ihren entscheidenden Dreh. Durch sie werden sie aus ihrem banalen Dasein gerissen und setzen uns dann in verblüfftes und nachdenkliches Erstaunen.

Vom kleinen Format dieser Arbeit zum großen! Auf dem breiten Mittelstreifen der Fahrbahn vor der Kestnergesellschaft hat Kris Martin eine große bronzene Kirchenglocke aufgebaut. Wird sie in ihren stählernen Verstrebungen in Schwingung versetzt, erwartet man mächtige, mahnende Töne von ihr. Sie bleiben aus, weil der Künstler den Klöppel entfernt hat. Das Schauspiel der lautlos vor sich hin schaukelnden Glocke ist von großer, absurder Eindringlichkeit. Dabei sieht sie aus wie ein aufgerissener Mund, dessen Schrei stumm bleibt. Man mag bei ihrem Anblick an die Botschaften der Kirche denken, die in unserer Zeit auch weithin unerhört bleiben. Mit dem verkürzten Titel »For Whom ...« (2008), den Martin dem Hemingway-Roman »For Whom The Bell Tolls« entnommen hat, reiht sich die Arbeit bei jenen ein, welche uns beiläufig und lakonisch mit der Frage nach dem Sinn unserer Existenz konfrontieren.

Das Frappierende an der Kunst von Kris Martin ist, dass ihm kein Gegenstand zu gering oder zu banal ist, um nicht mit seiner Hilfe existenzielle Fragen zu verhandeln. Martin ist als Künstler Philosoph. Immer wieder scheinen hinter seinen Werken grundlegende Fragen des Denkens auf, die zu Bildern geworden sind. Er schafft es, die Materie seiner Werke durch seine Eingriffe einer Transsubstantiation zu unterwerfen, durch die sie in hohem Maße spirituell werden. So wirkt die dreiteilige Anzeigetafel mit dem Titel »Trinity I« (2009) so sinister, als handele es sich bei ihr um ein modernes Requisit aus dem Danteschen Inferno. Der Künstler hat aus dem klappernden Flapboard, das man auf Flughäfen und Bahnhöfen findet, wo es Destinationen, An- und Abfahrtzeiten anzeigt, jegliche Information entfernt, sodass die Rotation der Fächer ins Leere läuft. Ein Kunstgriff, der eindringlicher nicht sein könnte und Samuel Becketts »Warten auf Godot« in ein überwältigend tiefschwarzes Bild fasst, im wörtlichen wie übertragenen Sinn.

Eines der bekanntesten Werke des Künstlers, »Vase« (2005) findet sich im Entrée des Hauses. Es ist eine über zwei Meter hohe chinesische Bodenvase. Obwohl nicht alt, sieht sie aus wie ein archäologischer Fund, weil sie aus vielen Scherben zusammengesetzt ist. Ihr Aussehen ist der Tatsache geschuldet, dass der Künstler sie vor jeder neuen Präsentation umstürzt und die dabei entstehenden Scherben wieder zusammenklebt. Die Vase wirkt wie ein Invalide, der schon durch so manchen Lebenssturm gegangen ist – und in gewisser Weise stimmt das ja auch. Darüber hinaus speichert das Werk einen Exkurs über das Verletzen und Heilen, aber auch über die Vergänglichkeit. Mephistos schneidende Einsicht kommt einem in den Sinn: »Denn alles, was da lebt, ist wert, dass es zugrunde geht.« Oder T. S. Eliots melancholischer Befund zur Kondition der Moderne, was wir heute in Händen hielten, sei »just a heap of broken images«, nur ein Haufen zerbrochener Bilder. Aus diesen lädierten Bilderresten formen wir unsere Vorstellungen von der Welt. Dem Untergang geweiht ist auch eine kostbar schimmernde Kugel, die an die platonischen Bilder der Vollkommenheit erinnert. Als solche taucht sie auch im Werk von James Lee Byars auf. Ihr Titel »100 Years« - oder auch »1000 Years« in einer weiteren Version - deutet darauf hin, dass sie keineswegs für die Ewigkeit gemacht ist, sondern ein eingebauter Mechanismus sorgt dafür, dass sie sich nach Ablauf dieser Zeit selbst zerstört. Das wird keiner von uns mehr erleben. Insofern verweisen uns auch diese Werke auf die eigene Endlichkeit. Nicht anders die Kalksandsteinfelsen von »Summit« (2009) mit den winzigen Gipfelkreuzen. Sie wirken weniger wie die stolzen Markierungen von Eroberern als wie Memoriale der Vergänglichkeit.

Michael Stoeber