vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 94

Portraits

Julia Schmid | Tue Greenfort | Kerstin Cmelka | Frank Stella | Kris Martin

Interview

Marius Babias

Page

Kornelia Hoffmann

Edition

Kerstin Cmelka

Portrait

Sibelius Park (Teil der 2-teiligen Arbeit), Helsinki, 2011, Öl auf Leinwand, 210 x 210 cm, Foto: Roland Schmidt; © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Textauszug

Julia Schmid
Was haben ein Bahnhofsvorplatz und ein großformatiges Tafelbild, auf dem sich Oleanderknospen, verdorrte Dornenranken und fleischiges Blattgrün zu einem eigenwilligen Blumenstillleben verbinden, miteinander gemeinsam? Julia Schmid (geb. 1969 in Wuppertal) erkundet Orte über deren Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Dabei geht es vor allem um die domestizierte Natur, wie sie in Gärten, Parks oder Naturkundemuseen zum Ausdruck kommt. Sie begreift diese Restbestände an Natur als Subtext, der sehr viel über den Stand der Zivilisation aussagt. Die Ergebnisse ihrer Erkundungen fließen in eine »verortete« Malerei, in der ortstypische Muster und Sichtweisen einer intensiven subjektivierten Interpretation ausgesetzt werden.

Die hochartifizielle Ölmalerei auf Leinwand oder Multiplex ist zugleich autonome Malerei und Teil eines Konzepts. Die oben erwähnte Fotografie des Blicks aus dem Madrider Bahnhof Atocha gehört zur dreiteiligen Arbeit »Zwei Kilometer Madrid«. Die Fotografie gibt gewissermaßen die Richtung vor. Sämtliche Pflanzenarten, die auf einer zwei Kilometer langen Wegstrecke in direkter Verlängerung des Bahnhofs gefunden wurden, finden sich auf zwei langgestreckten Querformaten malerisch ausgebreitet: Eine Bildtafel pro Kilometerabschnitt. In einem ebenfalls beigefügten Ausschnitt des Madrider Stadtplans ist die genaue Strecke rot markiert.

Julia Schmid verfügt virtuos über die malerischen Mittel, aus einer Handvoll eingesammelter Blätter, abgebrochener Zweige und Blüten ein vor Vitalität strotzendes ästhetisches Ereignis zu machen. Zwar wird in Analogie zu wissenschaftlichen Vorgehensweisen die Auswahl auf die örtliche Situation hin objektiviert. Aber mit der malerischen Interpretation treten die Kategorien des Subjektiven mit desto entschiedener Verve wieder in Kraft. Auf den Bildtafeln trägt eindeutig das Individuelle, Emotionale bis hin zur surrealen Verzerrung den Sieg über eine objektive Bestandsaufnahme davon. Entgegen jeder analytischen Systematik werden die Pflanzen nicht möglichst vollständig abgebildet, sondern in vereinzelten Fragmenten, die sich zu neuen Mutationen verbinden. Das vegetabile »All over« lässt sich als abstrakte Komposition von Formen und Farben lesen. Dennoch findet der Bezugsort einen deutlichen Niederschlag, und zwar nicht nur in der Frage, was gezeigt wird, sondern auch wie es gezeigt wird. Da Platzierung und Größenverhältnisse nach der Häufigkeit des Auftretens einer Spezies und ihrer »Bedeutung« für den Fundort ausgewählt werden, bestimmen sie die Struktur des Bildaufbaus und den damit einhergehenden Gesamtcharakter.

Sabine Elsa Müller