Interview

Christoph Platz-Gallus, Direktor, Kunstverein Hannover
Foto: Mathias Völzke

Textauszug

Christoph Platz-Gallus im Gespräch mit Joachim Kreibohm
J.Krb.: Kunst habe politisch korrekt zu sein, dem Fortschritt zu dienen, die vielfältigen Probleme und Verwerfungen in der Welt zu thematisieren und Lösungen für soziale Problemfelder anzubieten. Oftmals werden gegenüber der Kunst Erwartungen und Hoffnungen formuliert, Ver- und Gebote aufgestellt. Welche Rolle kann die Kunst in einer neoliberalen und globalisierten Welt einnehmen, wird der Kunst in ihrer Wirkmächtigkeit eine Omnipotenz zugeschrieben, an der sie nur scheitern kann, oder war Kunst schon immer ein Refugium, wo Dinge möglich sind, die woanders nicht möglich sind?

C.P.-G.: Als der Kunstverein Hannover gegründet wurde im 19.Jahrhundert, stand die Kunst noch im repräsentativen hegemonialen Dienste, Refugium war sie dennoch bereits. In Fragen der gesellschaftlichen Rolle der Kunst wird nach wie vor tiefgestapelt – wir haben während der Lockdowns gesehen, wie »Systemrelevanz« definiert wird, wobei es bereits »Kunst-Kuren« auf Rezept gibt. Wie sinnvoll die sind, bleibt zu erörtern, aber dass Kultur, wie David Graeber es wunderbar in seinen Schriften zur Anthropologie herausstellt, unstrittig einen Anteil hat, ist deutlich: Gemeinschaft und Verständnis ist nur durch Wertesysteme innerhalb von Ritualen zu erzeugen. Künstler:innen gehören nachgewiesenerweise zu den feinsinnigsten Beobachter:innen, Denker:innen, Visionär:innen, und ich erinnere an den Beitrag im Nordischen Pavillon der letzten Biennale, durch die Sámi: Alltägliches »Kunstmachen« ist ein natürlicher Vorgang des Ausdrucks, nicht ein spezifischer Bereich, wie ihn gerade eurozentristische Traditionen ausgebildet haben. Die »Wirkungsmacht« auf breiterem gesellschaftlichem Gebiet nach dem 19. Jahrhundert wurde der Kunst weitgehend durch einen monetären, nicht den intellektuellen Aspekt, anheimgestellt.

J.Krb.: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei«, so steht es im Grundgesetz. »Kunst kann und darf übertreiben«, sagen Sie. Klingt gut. Aber dürfen Künstler:innen alles, ist ihnen eine Freiheit zum Regelbruch zuzubilligen?

C.P.-G.: Regelbrüche werden in totalitären Regimen prophylaktisch unterdrückt oder so gestraft, dass um Leib und Leben gefürchtet werden muss. Daher ist es zunächst eine Errungenschaft, welche tätigen zu können. Kontext und Ziele sind also im Einzelfall zu besprechen. Ich erinnere an die wunderbare performative Arbeit von Ulay 1976, für die er einen Kunstraub begangen hat. Der Titel ist »Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst«, und er hatte im Dezember, filmisch dokumentiert, Carl Spitzwegs »Der arme Poet« (1839) entführt, um es einen Tag später zurückzugeben. »Linksradikaler raubt unser schönstes Bild«, hieß es in der Bildzeitung – und ja, er hatte Diebstahl begangen, um das Bild für kurze Zeit in eine Wohnung von Gastarbeitern zu hängen. Ein Bild, das zu den Lieblingswerken Hitlers gehörte und nicht nur einen prekären Künstler abbildet, sondern auch vermeintlich apolitische Kunst der westdeutschen Nachkriegszeit verkörperte. Ein gelungener Regelbruch, der sowohl auf verkrustete Institutionen als auch auf Doppelmoral vor Integrationsdiskursen deutete und die Leitmedien vollkommen auflaufen ließ.

J.Krb.: Kurz und bündig: »Kunstvereine haben keinerlei Zukunft«, so der frühere Direktor des Frankfurter Kunstvereins, Peter Weiermair, Ende der 1990er-Jahre. In der Folge wurde dann im Feuilleton die »Krise der Kunstvereine« ein zentrales Thema. Museen und Kunsthallen entdeckten ihr Herz für zeitgenössische Kunst. Kunstvereine reagierten zunächst auf diese Strukturveränderungen defensiv, indem sie sich museal ausrichteten oder sich in eine programmatische Nische begaben. Heute ist zeitgenössische Kunst überall zu sehen. Sei es in Kunsthallen, Museen, Städtischen Galerien, Off-Spaces, sei es auf Kunstmessen oder in Privatgalerien. Eine begrüßenswerte Entwicklung. Haben die Kunstvereine ihre exklusive Rolle in der Vermittlung zeitgenössischer Kunst verloren?

C.P.-G.: Kunstvereine wurden immer wieder im Krisenzustand beschrieben, Wulf Herzogenrath und viele andere haben das getan. Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine (ADKV) wurde vor dem Hintergrund des Erstarkens des Marktes gegründet, in den 1990er- Jahren haben Kürzungen bei der öffentlichen Hand große Probleme an die Vereine herangetragen. Die vielleicht größte Umbruchszeit, da es um die inhaltliche Linie ging, fand post-68 statt. Da hatten Kunstvereine, wie in Münster, 700 Neueintritte im Jahr, ein Generationswechsel fand statt, weil die Kunstvereine die Agora für politische Kunst und ihr Publikum wurden. Gesellschaftliches »Jetzt« wurde dort im erweiterten Kunstbegriff praktiziert. De facto sind aber Kunstvereine die Gründungsinstitutionen und Initiatoren von vielen Museen, Kunsthallen und öffentlichen Sammlungen, weil ein »Amateur:innenkreis« schon während der Säkularisierung, der Auflösung von Kirchen und Klöstern, sich zurückgelassener Schätze annahm, etwa Holzaltäre aus dem Mittelalter. Bis heute sind einige Kunsthallen von Kunstvereinen getragen. Die Rolle der »Experimentierräume« für »nicht etablierte« Kunst haben sie aber nicht mehr, vielmehr sind sie seit Professionalisierung durch Fachpersonal seit den 1960er-Jahren eine:r der Keyplayer:innen für qualitativ ausgesuchte Kunst und, das darf man bei all dem Fokus auf die großen Vereine nicht vergessen: gerade in den Regionen und auf dem Land ein zentraler Ort für lokales Kunstschaffen und -vermittlung. Auch neue »bottom-up«-Institutionen können sich formal als Kunstvereine gründen, ein wichtiges Gut.

J.Krb.: In den 1990er-Jahren setzte die Kestner Gesellschaft unter der Ägide Haenlein/Ahrens vornehmlich auf große Namen wie Pablo Picasso, Joseph Beuys, Fabrizio Plessi, James Lee Byers, Andy Warhol, Jannis Kounellis, Louise Bourgeois, Antoni Tàpies. Der Kunstverein unter Eckhard Schneider verfolgte damals die gleiche Strategie. Beispielsweise wurden Gerhard Merz, Richard Long, Panamarenko und Daniel Buren gezeigt. Zeitgenössische Positionen hingegen wurden im Sprengel Museum in der von Gabriele Sand kuratierten Reihe »Interventionen« präsentiert, so Karin Sander, Korpys/Löffler, Tobias Rehberger, Manfred Pernice, Mischa Kuball, Leni Hoffmann. Das war damals, nun zurück zur Gegenwart: Planen Sie Kooperationen oder wollen Sie zunächst selbst einmal Ihr Terrain abstecken und sich positionieren?

C.P.-G.: Ich bin in beginnenden Gesprächen mit den Kolleg:innen, da wird es sicher Kollaborationen geben. Gerade habe ich mit Carl Haenlein zusammen zu Mittag gegessen und über Warhol gesprochen, der im Hotel die ganze Nacht mit seiner Mutter telefonierte. Derlei Anekdoten können einem viel Einblick in die Verfasstheit der »Art Bubble« aus vorigen Zeiten gewähren. Ich halte sie nicht zuletzt für inspirierend. Meine erste Eröffnung im Kunstverein Hannover habe ich zusammen mit einem Schüler von Eckhard Schneider aus Kyjiw eröffnet, die Raumsituation, wie ich sie im Kunstverein zur Verfügung habe, stammt aus der Zeit von Eckhard Schneider. Bei der Eröffnung der aktuellen Ausstellung »Zhanna Kadyrova: Daily Bread. Eine erste Retrospektive« konnte ich auf eine herausragende Ausstellung von Katrin Sello, der ersten weiblichen Leitung des Kunstvereins, Bezug nehmen, die thematisch zum Thema »Brot« gefasst war.

J.Krb.: Ihren ersten Auftritt in Hannover hatten Sie mit einer Retrospektive der 1981 geborenen ukrainischen Künstlerin Zhanna Kadyrova. Geplant sind Ausstellungen mit der polnischen Künstlerin Agnieszka Kuarant und dem britischen Fotografen Akinbode Akinbiyi. Ein Programm ist stets Ausdruck bestimmter Vorlieben und Abneigungen. Sie entscheiden sich für und gegen bestimmte künstlerische Positionen, für und gegen bestimmte Themen, für und gegen bestimmte Formate. Was sind Ihre Kriterien?

C.P.-G.: Ich will vielleicht nur ein paar kurze Dinge von jetzt gerade nennen, da Kriterien immer offen für Veränderung und Perspektivwechsel sein sollten. Derzeit interessieren mich Fragen transgenerationaler Wissensvermittlung und trans-disziplinären Arbeitens, allerdings ausgehend von einer Perspektive der Bildenden Kunst. Natürlich starte ich mit Künstler:innen, mit denen ich bereits einmal arbeiten konnte oder deren Praxis mich besonders interessiert. Einige hat der Kunstverein aber bereits vor meiner Zeit gezeigt, zum Beispiel Mark Dion, mit dem ich in Kassel seine Xylothek bei der dOCUMENTA (13) realisiert habe, oder Henrike Naumann, die ich 2018 mit »Anschluss ’90« nach Graz einladen konnte.

J.Krb.: Wie gehen Sie mit den Künstler:innen vor Ort um, haben Sie Berührungsängste oder erweisen Sie sich als Lokalpatriot und vergeben Bonuspunkte?

C.P.-G.: Der Kunstverein hat per Satzung lokale Künstler:innen im Beirat, ein wichtiger Seismograf für das örtliche Wirken. Auch mache ich gerade Atelier- und Ausstellungsbesuche bei der lokalen Szene. Patriotismus lehne ich ab, bestenfalls als kritische Sprecher:innenposition, um in den Diskurs zu treten, weil wir uns ja Herkünfte auch nicht löschen können oder sollten.

J.Krb.: Sie wollen eine Nachhaltigkeitsethik und -strategie etablieren und umsetzen, das Modell »Grüner Kunstverein«. Sicherlich sind Ihre Intentionen andere als das leider in Mode gekommene »Greenwashing«. Was ist konkret geplant?

C.P.-G.: Der Kunstverein Hannover hatte als einziger Kunstverein bei einem Pilotprojekt der Kulturstiftung teilgenommen, um Klimabilanzen in Kulturinstitutionen zu erörtern. Gleichzeitig haben die großen Häuser »Klimabeauftragte« einführen können: etwas, das kleine Institutionen rein personell nicht realisieren können. Maßnahmen der Nachhaltigkeit können nur strukturell und in kleinen Schritten als Kodex in kleineren und mittelgroßen Institutionen eingeführt werden, nicht etwa über künstlerisches, thematisches Programm zum Ozean oder der Rodung des Amazonas. Ich begrüße Praxis zu diesen Themen sehr, die werden wir sicher auch in Hannover sehen, aber nur vor dem Hintergrund einer reflektierten und reflektierenden Institution. Ganz konkret gesprochen: es gilt etwa, die veraltete Lichtanlage zu überarbeiten, hier haben wir bereits erste Unterstützung aus der Region gefunden und arbeiten an weiterer.

J.Krb.: Schneller und schneller, teurer und teurer, jünger und jünger lautet das Gebot der Stunde. Der Markt verlangt frische Ware, Künstler:innen produzieren, Galerien wollen verkaufen. Ein immer schnellerer Kreislauf. Richtet sich die geplante »Akademie der Lebenserfahrung« gegen den Trend, dass zeitgenössische Kunst als junge Kunst in Lebensjahren gesehen wird? Eine Hommage an das Alter?

C.P.-G.: Hommage nicht, aber Gespräche mit dem Alter. »Emerging Artists« sind bitter nötig, aber mindestens genauso wichtig immer wiederkehrende Fragen an erfahrene. Wir brauchen mehr Formate, in denen Künstler:innen ab 65 zu Wort kommen, ohne explizit nur deren Werk zu betrachten. Daniel Buren hat uns beispielsweise viel zur Ausstellungsfotografie der 1960er-Jahre zu sagen, zu Auseinandersetzungen mit Sammler:innen, Museen und zur Förderung. Aber auch zu seinem Lieblingsdessert.

J.Krb.: Sie haben vor, die Aktivitäten des Vereins in seiner Historie sichtbar zu machen und planen ein Archiv. Rückt die Vergangenheit in die Gegenwart und vice versa?

C.P.-G.: Das bisher ungehobene Archiv des Kunstvereins betrachte ich nicht nur als eine Schatzkiste, sondern Verpflichtung eines Kunsthistorikers, dort einiges ans Licht zu führen. Auch im Hinblick auf ganz aktuelle Fragen. Nur ein Beispiel: als Daniel Buren gerade noch einmal in Hannover war, fiel ihm durch vereinzelt gefundene Dokumente ein, dass er seine erste kinetische Arbeit realisiert hatte: auf automatischen Schiebetüren der Stiftung der NORD/LB, die das damalige Projekt im Kunstverein unterstützt hatte.

J.Krb.: Die Diskussion über die documenta fifteen nimmt derzeit wieder an Fahrt auf. Die Themen wiederholen sich: Antisemitismus, BDS, Kunstfreiheit und dergleichen. Ein von Kulturstaatsministerin Claudia Roth in Auftrag gegebenes Gutachten des Berliner Rechtswissenschaftlers Christoph Möllers »Grundrechtliche Grenzen und grundrechtliche Schutzgebote staatlicher Kulturförderung« kommt zu folgendem Ergebnis: Es ist ausgeschlossen, künstlerische Programme einer staatlichen Vorab-Kontrolle zu unterwerfen ... Die Freiheit der Kunst kann auch in Fällen rassistischer oder antisemitischer Tendenzen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vor staatlichen Zugriffen schützen ... Entscheidend ist nicht das Exponat selbst, sondern die kuratorische Haltung, mit der etwas ausgestellt wird. Entspricht das Gutachten Ihrem kuratorischen Selbstverständnis?

C.P.-G.: Das ist eine komplexere Diskussion, der man ein ganzes Heft widmen muss. Es ist problematisch, wenn systematische inhaltliche Prüfmechanismen und Filter zur Bedingung gemacht werden. Vielmehr gibt es für mich hier zwei zentrale Punkte: »Leitkultur« kann ja nicht die Maxime einer Institution sein, die in der, natürlich nicht konfliktfreien, Tradition steht, die Avantgarde abzubilden und Stimmen zuzulassen, die bisher nicht einmal in der Nähe des Kanons waren. Umdeutungshoheit muss ermöglicht werden und Fachleuten anvertraut sein. Es ist allerdings ein Komplex, der das ermöglicht, mediale Rezeption ist Teil dessen. Ich bin befangen, da ich zwei Mal Teil des documenta-Teams war und sich für mich eher die Frage nach Nachhaltigkeit stellt bzw. vielmehr: Nachhaltigkeit worin? Dass Kunstwerke Kontext brauchen, den ihrer Provenienz und den ihres »Embeddedments«, sollte selbstverständlich sein.

Joachim Kreibohm