Portrait

Consigne n.788,2005

Textauszug

Ha Cha Youn
»Der französische Kurator und Publizist Nicolas Bourriaud setzt sich in seinem Buch »Radikant«, 2009, unter anderem mit den Bedingungen der Kunst angesichts von Multikulturalismus, Postmoderne und massenhafter Migration auseinander. Dazu prägt er den Begriff »Radikant«, den er dann folgendermaßen beschreibt: »Radikant sein: seine Wurzeln in heterogenen Kontexten und Formaten in Szene setzen«. Dieses Wurzelsetzen wäre also ein im Kontext der »kulturellen Globalisierung« andauernd nomadisches, »umherschweifendes« Wurzelsetzen, das eben nicht mehr »nationale«, von einem geographischen Ort definierte Identitäten festschreibt, sondern vielmehr einen solchen (monolithischen) »Ursprung zugunsten einer Vielzahl simultaner oder sukzessiver Verwurzelungen auslöscht«. Hergeleitet hat Nicolas Bourriaud den Begriff »Radikant« übrigens von der Bezeichnung für Pflanzen, »die nicht aus einer einzigen Wurzel herauswachsen, sondern sich in allen Richtungen auf den Oberflächen ausbreiten, die sich ihnen anbieten,indem sie sich mit zahlreichen Häkchen festhalten wie der Efeu«.

Ha Cha Youns künstlerische Arbeit ist so etwas wie ein Prototyp für eine radikante Ästhetik. Ha Cha Youn ist in Korea geboren, seit ihrem 23. Lebensjahr lebt sie in Europa, hat in Frankreich und Deutschland Kunst studiert. Danach hat die Künstlerin für längere Zeit in Hannover gelebt, seit 2002 nun wohnt und arbeitet sie vor allem in Paris. Dieses »Vagabundieren« – das Wort leitet sich vom lateinischen »umherschweifen« ab – aber ist nicht nur prägend für Ha Cha Youns Leben, sondern es ist auch das zentrale Thema ihrer Kunst. In der postmodernen Globalisierung virulent gewordene Problemfelder wie »kulturelle Identität«, »nomadische Migration und Flucht«, »kapitalistische Überflussgesellschaft« sowie »asoziale Ungerechtigkeit« stehen in ihrem Oeuvre, ihren bildnerischen Arbeiten und stets raumbezogenen Installationen, ihren engagierten Videos und Dokumentarfilmen, konzeptuellen Textarbeiten und selbst durchgeführten Performances bereits seit den 1980er Jahren zur künstlerischen Disposition.

Die Rolle dieses Hemdes spielt eine monochrome Plastiktüte zum Beispiel auch in Ha Cha Youns Arbeit »Consigne«, 2005. Diese so aufwühlende wie schlicht dokumentierende Fotoserie zeigt lapidare Aufnahmen von Bäumen in Paris, in denen Obdachlose Tüten und Taschen in möglichst großer Höhe verstaut haben.. Mit dieser schwer zu erreichenden Aufbewahrung wollen die Obdachlosen, die Vagabunden, wie sie sich meist selbst nennen, ihre Tüten und Taschen, in denen sie ihre wenigen noch verbliebenen Habseligkeiten aufheben, vor dem Zugriff der Polizei und dem Diebstahl anderer, ebenfalls in prekären Umständen lebenden, Mitmenschen schützen. Diese engagierte Arbeit spielt an auch an die überaus schwierigen Lebensumstände von Flüchtlingen, nutzen diese doch auf ihrer oftmals lebensgefährlichen Flucht meist ähnliche Plastiktüten. Und dass solche Plastiktüten inzwischen längst nahezu überall auf der Welt in Gebrauch sind, zeugt von der monopolistischen Gewalt spätkapitalistischer Produktion und Distribution.

Abschließend noch ein Blick auf eine Arbeit Ha Cha Youns zur sogenannten »Flüchtlingskrise«, auf ihre Installation »MAT, BOAT, CARPET – my mat, a boat for family, a larger carpet for all«, 2021. Zwei Flatscreens mit Lautsprechern sind im Raum installiert, auf ihnen sind Meereswellen zu sehen und zu hören. Flankiert wird diese Aufstellung von rechteckigen Matten, zusammengesetzt aus etwa 1000 PET-Plastikflaschen, die für diese Arbeit nebeneinander auf dem Boden ausgelegt sind. Sofort, fast schon reflexartig, erinnert dieses Szenarium an die kleinen, unsicheren Boote und Flöße, mit denen immer mehr Flüchtlinge derzeit ihre Heimat verlassen. Gleichzeitig spielt die Größe der Matten und ihre Platzierung auf dem Boden des Ausstellungsraums an die ebenfalls im Titel erwähnten Teppiche an. Die Situation eines sicheren Zuhauses in einem Wohnzimmer setzt Ha Cha Youn also in kritischen Widerspruch zu der überaus gefährlichen Situation der »boat people« auf ihrer Route über das Meer. Und beinahe nebenbei wird sich hier auch auf das Problem der globalen Umwelverschmutzung mit den etwa 1000 Plastikflaschen bezogen. Doch auch in »MAT, BOAT, CARPET – my mat, a boat for family, a larger carpet for all« schlummert noch ein poetischer, ja utopischer Moment, der sich durch die Assoziation »fliegender Teppich« ergibt, durch eine märchenhaft sichere Form des Fortbewegens, die seine Passagiere ohne Zweifel pünktlich und sicher ans Ziel bringt.

Raimar Stange