Artist Ausgabe Nr. 132
Portraits
Lukas Zerbst | Carrie Mae Weems | Joanna PiotrowskaPage
Nadira HusainEssay
Sabine Maria SchmidtInterview
documenta fifteen: Dan Perjovschi, Generosity, Regeneration, Transparency, Independence, Sufficiency, Local Anchor and most of all Humor, Installationsansicht, 2022,
Fridericianum, Kassel, 10. Mai 2022, Foto: Nicolas Wefers
Fridericianum, Kassel, 10. Mai 2022, Foto: Nicolas Wefers
Textauszug
documenta fifteen. Hajo Schiff und Raimar StangeJ.Krb.: Das indonesische Kuratorenkollektiv ruangrupa wurde eingeladen, um einen anderen Blick kennenzulernen, den Blick des »Globalen Südens«. Wichtig für die Entscheidungskommission war laut der Generaldirektorin der Documenta, Sabine Schormann, dass ruangrupa kritisch gegenüber dem westlichen Ideal des Künstlers als Genie, den Gesetzen des Kunstmarkts und Institutionen sei. ruangrupa hat »Lumbung« zur Schlüsselmetapher ihres kuratorischen Konzeptes erhoben. Kunst als kollektive Praxis. Ein tragfähiges Konzept?
H.S.: Eine indonesische Künstlergruppe wie ruangrupa zu Kuratoren der Documenta zu bestimmen, geschah wohl in der Erwartung, jenseits des eingespielten Kunstmarktes eine andere, freiere und selbstbestimmte Perspektive auf die Weltkunst zu gewinnen, nicht aber vorrangig, weil es ein aktuell herausragendes Interesse speziell an Indonesien oder exotischen Party-Formaten gäbe. Insofern ist die Flutung der Kasseler Schau mit indonesischen Begriffen schon selbst ein antiglobaler, kulturalistischer Provinzialismus. Nun, warum nicht lernen, dass das »Lumbung«-Prinzip wesentlich die freundschaftliche und großzügige Teilung eines kollektiven Besitzes bedeutet und »Nonkrong« »abhängen« heißt. Vielleicht bleibt bei solcher Sprachbetrachtung dann auch der Wortwitz zu entschuldigen, dass ja nicht auch noch alle Bilder abgehängt werden müssen und Teile des pauschal sogenannten »Globalen Südens« sich als abgehängt empfinden.
R.S.: Ja, es ist ein sehr tragfähiges Konzept. Kategorien wie individuelle Autorenschaft inklusive außergewöhnlicher Könnerschaft, ein abgeschlossener und darum gut vermarktbarer Werkbegriff sowie das Konzept der apolitischen Interesselosigkeit sind ja nicht erst seit gestern fragwürdig geworden. Nun aber wird endlich eine Kunstpraxis auf großer Bühne präsent, die als aktivistisch-engagierter und kollektiv erarbeitender »Artivismus« spätestens seit den 1960er Jahren existiert. Der USamerikanische Künstler und Kulturkritiker Gregory Sholette spricht in diesem Kontext von »Dark Matter«: Diese Kunst ist seit langem da, wird aber, unter anderem vom Kunstmarkt und den großen Institutionen, als dunkle Materie behandelt, bleibt also tendenziell unsichtbar. Diese Zeiten sind jetzt hoffentlich vorbei.
J.Krb.: Bereits die von Adam Szymczyk geleitete Documenta hat den von Catherine David und Okwui Enwezor eingeleiteten Perspektivwechsel verstärkt, die Welt der Kunst global zu betrachten. Bei der documenta 15 hat sich der Fokus endgültig auf den des Globalen Südens verschoben, sie will dem Süden des Planeten Gehör verschaffen. Hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen?
R.S.: Ganz offensichtlich wird auf der documenta 15 die »internationale Kunstwelt« endlich geöffnet, die Vorherrschaft westlicher Kulturbegriffe, die absolute Dominanz der »Westkunst«, um den Titel einer legendären Kölner Ausstellung aus dem Jahre 1981 zu zitieren, bröckelt immer mehr. Das wurde aber auch höchste Zeit: Die Arroganz und Blindheit dieses Anspruchs »Westkunst« belegt schon der anmaßende zweite Teil des Titels: »Zeitgenössische Kunst seit 1939« – als wenn es zeitgenössische Kunst nur im »Westen« gibt.
H.S.: »Globaler Süden« ist leider eine keineswegs unproblematische und viel zu pauschale Etikettierung. Der Begriff gehört zu jenen ideologischen Neologismen, die dem Glauben Ausdruck geben, mit einem neuen Wort wäre die kontextuelle Herablassung geringer, schon bei der letzten Documenta hat sich beispielsweise der Mitaustragungsort Athen vehement dagegen verwahrt, Teil dieses Konstrukts zu sein. Es gibt in den vielen Projekterläuterungen dieser Documenta überhaupt eine große Begeisterung für fröhliche Empfehlungen und beschönigende Euphemismen, die oft an Verkitschung grenzen. Die Geschichte der Documenta, selbst inzwischen in Archiven und Ausstellungen zum Thema musealisiert, ist durchaus als eine der Paradigmenwechsel zu beschreiben: Vom Rahmenprogramm einer anderen Ausstellung über eine Ausstellung mit Rahmenprogramm bis zum Programm fast ohne Ausstellung, vom Wiedergewinn der Kunst, ihrer Erweiterung und ihres Verlustes, von nationaler Aufarbeitung zu globaler Weltverbesserung – und bösartig: Vom Zeigen einst verbotener Kunst zum Verbot gezeigter Kunst.
J.Krb.: »Kunst oder Aktivismus?« fragt die Süddeutsche Zeitung. Aber was ist Aktivismus, was ist politische Kunst, was ist Kunst, verlaufen die Grenzen fließend oder ist hier begrifflich zu differenzieren?
R.S.: Mich interessieren da eher die Gemeinsamkeiten: sozialpolitisches Engagement, meist gemeinschaftlich organisiert, keine dezidierte »Werk-Objektorientierung«, dafür Prozesshaftigkeit und Solidarität. All diese Momente vermisse ich bei den »einsamen Monologen« (Nicolas Bourriaud) zum Beispiel der ästhetischach so versierten Malerfürst:innen, die immer noch einem selbstherrlichen Subjektbegriff des mehr oder weniger autonomen Ichs nachhängen.
H.S.: Workshopräume, Werkstätten oder Druckereien, Kindergärten, BDSM-Partykeller und Halfpipes, auch Gärten von und für die vietnamesische Gemeinschaft Kassels sind schön und nützlich – doch sie waren, sind und werden keine Kunst und sind im Kunstkontext betrachtet bestenfalls eine Aufforderung zum Handeln, schlimmstenfalls die völlige Ablösung der Kunst durch das Soziale. Dafür kann auch der erweiterte Kunstbegriff von Joseph Beuys nicht Pate stehen, gehen dabei doch die Alltagsveränderungen von der Kunst aus und erklären nicht einfach den Alltag zur Kunst, auch zielt das berühmte Statement »Jeder Mensch ein Künstler« ja auf das kreative Potential jedes Einzelnen und keinesfalls auf die Selbstermächtigung als Künstler oder den Wunsch, den Alltag als Kunst zu verkaufen. Und noch während die ernsthafte Kunstkritik zu nahezu jedem der ihr zur Verfügung stehenden Kriterien über diese Documenta den Daumen senkt, muss sie doch etwas entgeistert feststellen, dass hier mit der ausdrücklichen Ausrichtung der »Kunstpraxis« auf »Aktivismus« alle ihre Kriterien ohnehin längst und mit klarer Ansage über Bord geworfen wurden. Wenn Nicola Kuhn im Berliner Tagesspiegel diese Documenta wie eine »NGO-Messe« vorkommt, ist das nicht nur im übertragenen Sinne richtig. Durchaus oft stellt sich nach einiger Zeit die Frage, wo denn hier die Sammelbüchse für das in Videodokumentionen vorgestellte Projekt steht. Und schon von vorneherein geht ja ohnehin ein Euro des Eintrittspreises an Nachhaltigkeitsprojekte in Deutschland und Indonesien. Auch sind in der Marktsituation des »Hübner Areals« professionell beworbene Anteile an Waldprojekten käuflich zu erwerben. Nun hat ein »aktivistisch« aus dem Symbolischen in die Realität gebogener Kunstanspruch ein Problem: Das Unrecht gegen die Aborigines in Australien oder gegen die Kurden in der Türkei und deren Nachbarstaaten droht bei Betrachtung der Landkarten oder der direkten Umsetzung der griffigen, teils simplen Parolen, wird denn das Feld der Kunst verlassen, zu Krieg oder Bürgerkrieg zu führen. Aber sicher sind die in Ruinen gefilmten kurdischen Gesänge (Komina Film a Rojava) herzrührend und der im Hessischen Landesmuseum auf großer Leinwand gezeigte, hochsensible und traurig schöne Film »Asit« von Pinar Ögrenci vermittelt auch emotional die leidvolle armenische Geschichte und konfliktreiche kurdisch-türkische Gegenwart in der abgelegenen Berggegend um Müküs südlich von Van in Südostanatolien.
J.Krb.: Bereits im Vorfeld zur Documenta geriet das Kuratorenkollektiv ruangrupa in die Kritik. Schon Monate zuvor hatte es Antisemitismus Vorwürfe gegen das kuratierende Künstlerkollektiv ruangrupa aus Indonesien gegeben. Von Antisemitismus war die Rede, von zu großer Nähe zum BDS (Boycott, Divestment und Sanctions). Hingegen betonten Documenta Leitung, Kurator:innen und Politik vehement, dass Antisemitismus auf der Documenta ein absolutes no go sei und wiesen die Vorwürfe zurück. Eine Diskussionsreihe »We need to talk« im Vorfeld der Kunstschau sollte den Vorwürfen begegnen, wurde aber kurzfristig abgesagt. Ein großer Fehler, fehlt es hier an einer Debatten- und Diskurskultur?
H.S.: Es ist sehr bedauerlich, dass für die Auseinandersetzung kein Format im Rahmen der d15 gefunden wurde und diese wesentlich nur indirekt in den skandalsuchenden Medien stattfand.
R.S.: Warum eigentlich sollen die künstlerischen Leiter:innen der documenta 15 über Antisemitismus diskutieren wollen? Dieser spielt im Konzept ihrer Ausstellung überhaupt keine Rolle, außerdem haben sich ruangrupa des öfteren klar und deutlich von Rassismus und Antisemitismus distanziert. Dass sie Rassismus und Antisemitismus in einem Atemzug genannt haben, führte bereits zu heftigen Protesten vom »Zentralrat der Juden«. Wie soll unter diesen Vorzeichen ein diskursives Gespräch möglich sein? Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie hat schon 2020 im Rahmen der sogenannten »Antisemitismusdebatte« rund um Achille Mbembe, dem damals in ignoranter und boshafter Weise vorgeworfen wurde, er würde den »Holocaust relativieren« weil er diesen unter anderem im Zusammenhang mit dem Apartheid-Regime in Südafrika diskutiere, festgestellt, dass in Deutschland derzeit »über Holocaust, Rassismus und Kolonialismus kaum noch sachlich diskutiert werden könne«. Für sein Buch »Kritik der schwarzen Vernunft« wurde Achille Mbembe 2015 noch mit dem »Geschwister-Scholl-Preis« geehrt, heute spricht der international anerkannte Philosoph nicht mehr in Deutschland …
J.Krb.: »Wir haben alle darin versagt, in dem Werk die antisemitischen Figuren zu entdecken.....und wir nutzen diese Gelegenheit, um uns über die grausame Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus weiterzubilden«, betont das Kollektiv ruangrupa. »Man bedaure, dass das Werk ‘People’s Justice’ so viele Menschen beleidigt habe. Man habe aus dem Fehler gelernt und erkenne jetzt, dass die Bildsprache im historischen Kontext Deutschlands eine spezifische Bedeutung bekommen habe«, so Taring Padi. Der Sprecher des Kollektivs, Ade Darman, betont als Indonesier hätten sie keinen Erfahrungshintergrund mit dem Antisemitismus. Zugleich warb er für Verständnis für andere historische Erfahrungen. Handelt es sich hier um Selbstkritik, Kontextualisierung oder eher um »laue« Entschuldigungen?
H.S.: Sie sind schon sehr befremdlich, einzelne Aussagen von ruangrupa zu den antisemitischen Zitaten in der Arbeit der befreundeten Künstlergruppe Taring Padi, so in der Art, man habe in Indonesien den Holocaust nicht in der Schule gelernt. Das sagen ja keine Reisbauern, als die sie sich so gerne stilisieren, sondern Kuratoren, die seit 20 Jahren Erfahrung im internationalen Ausstellungskarussell haben. Bei allem kulturell diversen Kollektivismus ist simple Unkenntnis in einer faktischen Leitungsfunktion eine reichlich verantwortungslose Argumentation.
R.S.: »People’s Justice« ist eine Arbeit von 2002, sie wurde international bereits mehrfach gezeigt, ohne für Skandale zu sorgen. Ich bin sicher, sowohl ruangrupa wie Taring Padi wurden daher von der völlig unverhältnismäßigen Reaktion überrascht. Deswegen wohl waren ihre Antworten zunächst, salopp formuliert, ein wenig unausgegoren.
J.Krb.: Das Fridericianum ist seit der Gründung 1955 das Stammhaus, die Keimzelle und das Herz der Documenta. In Fridskul umbenannt, hat sich die Funktion erweitert. Neben den Ausstellungsräumen gibt es hier nun auch eine Kinderbetreuung, eine Bibliothek, eine Werkstatt und Wohnräume für Künstler:innen. Überall stehen Sofas, Sitzsäcke, Hocker oder Hängematten herum. Hier eine Bücher- und Musikecke, dort ein Tisch zum Basteln und Nähen. Das Fridericianum wird Wohnzimmer, Werkstatt und Versammlungsort. Erfahren wir hier etwas über die kollektive Arbeitsweise, über das Selbstverständnis, über Utopien und Versprechen von ruangrupa?
R.S.: Ja, der Umgang mit dem Fridericianum ist typisch für den kuratorischen Ansatz von ruangrupa, denn dort hat, wie auf der gesamten documenta 15, ein Paradigmenwechsel stattgefunden, und zwar genau so wie Sie es beschreiben. Hier findet eine artivistische Prozesshaftigkeit statt, hehre Kunstwerke dagegen sucht man vergebens. Stattdessen stellt sich die Kunst in den Dienst sozialer Arbeit. Kollektiv wird daran gearbeitet, dem Leben und der Documenta neue, menschengerechtere Möglichkeiten in schon bestehenden Räumen und Funktionszusammenhängen zu eröffnen. Dabei ist die Rezeption der »Ausstellung« mehr als nur ein bloßes Schauen, sie wird immer wieder zu einer körperlichen Erfahrung, die immer wieder Interaktion und Mitdenken initiiert.
H.S.: Interaktion ist das Wichtigste. Aber wie, mit wem und wozu bleibt die ungelöste Frage. Und es zeigt sich eine weitgehende Gleichgültigkeit gegenüber Ästhetik. Sich selbst erfahren, die eigenen und die Erfahrungen der Gruppe erinnern und bekanntmachen: Da bleibt nicht viel Raum für Formfragen. Vor allem das Archiv ist eine geeignete Methode dafür. Und so unbestreitbar wichtig die zahlreichen auf dieser Documenta versammelten Archive auch sind, es bedarf eines Spezialinteresses, sie zu nutzen. Leider ist das auch – ohne zusätzlichen Attraktor, beispielsweise der Kunst – wenig attraktiv für Dritte, Außenstehende, Uneingeweihte, gewöhnliche Besucher und als Materialsammlung erst einmal erstaunlich wenig politisch im engeren Sinne.
J.Krb.: Der Zugang zur documenta-Halle erfolgt durch einen rostigen Wellblechtunnel vom kenianische Kollektiv Wajukuu Art Project. Die Situation auf der Documenta ähnelt einem Projektraum in einem Slum am Rand von Nairobi, den das Kollektiv bespielt, wo die Bewohner in Werkstätten handwerkliche Fähigkeiten erlernen und sich künstlerisch ausdrücken können. Wird hier der Gegensatz von Arm und Reich zu einem Thema »politischer«Kunst?
H.S.: Es ist eher eine plakative Affirmation. So fabuliert das Begleitbuch der Documenta zum Slum Lunga Lunga in Nairobi angesichts des Umgangs mit den dortigen katastrophalen Missständen von »organischer Erweiterung improvisierter Funktionalitäten« und »kraftvoller Ungezwungenheit«. Und wenn das Wajukuu Art Projekt die Bilder, Filme und Messer-Objekte in einer Umgebung aus Wellblech und O Ton zeigt, ist diese Disneysation einer Völkerschau 2.0 sehr nahe. So bleibt der Wellblech-Eingang zur documenta-Halle ebenso aufwendig und unsinnig wie schon das Schilfdach für den US-Pavillon der La Biennale di Venezia.
R.S.: Gute Kunst hat immer mehrere Bedeutungsebenen. Darum lässt sich diese Arbeit des Wajukuu Art Projekts genau so interpretieren, wie Sie es getan haben. Man kann diese Arbeit aber zum Beispiel auch als Kritik an einer modernen Architektur lesen, der es immer weniger um die Bedürfnisse der Menschen geht. Oder als Passage hin zu einem Dialog zwischen »Globalem Süden« und dem Norden.
J.Krb.: Nach dem Antisemitismus-Skandal bei der Documenta hat die Generaldirektorin der Ausstellung, Sabine Schormann, ihr Amt niedergelegt. Aufsichtsrat und Gesellschafter haben sich mit ihr verständigt, den Dienstvertrag kurzfristig aufzulösen. Kulturstaatsministerin Claudia Roth begrüßte die Entscheidung des Aufsichtsrats, sich von Schormann als Generaldirektorin zu trennen. »Es ist richtig und notwendig, dass nun die Aufarbeitung erfolgen kann, wie es zur Ausstellung antisemitischer Bildsprache kommen konnte, sowie die nötigen Konsequenzen für die Kunstausstellung zu ziehen«, sagte die Grünenpolitikerin der Frankfurter Rundschau. So mehren sich die Rufe nach einer tiefgreifenden Strukturreform. Allenorts der Ruf nach Aufklärung, Aufarbeitung und Transparenz. Was ist zu erwarten?
H.S.: Vielleicht wird zukünftig ein neues Meta Kuratorium installiert, ggf. stärkere Projektkontrolle durch einen »Sachverständigenrat«. Und leider werden wohl statt transparenter Kommunikation im Hintergrund neue Ausschlusskriterien definiert und anstelle neuer Experimente stehen neue Normierungen zu befürchten.
R.S.: Ich bin kein Prophet, glaube aber, dass da viel heiße Luft im Raum ist, Politiker müssen halt unter dem Druck des »Skandals« so tun, als ob sie sich kümmern würden. Da sie aber kaum Ahnung davon haben, wie eine Documenta, oder gar Kunst, tatsächlich funktioniert, wird im Moment viel Unsinn laut und schnell dahergesagt.
J.Krb.: Was wird von der documenta 15 bleiben. Ist es der Antisemitismusskandal, ist es die Sprachlosigkeit der Beteiligten, ist es das Verantwortungskarussell, ist es Kunst als kollektive Praxis, sind es die Postulate wie Solidarität, Gemeinschaft, Teilen und Gerechtigkeit, bleiben sie Utopien, Versprechen oder werden sie real und verändern gesellschaftliche Strukturen? Was wird in Erinnerung bleiben?
H.S.: Sehr präsent ist der naturmystische, mitunter shamanische Zugang zum Land, was nicht nur einen sehr traditionsgebundenen kulturellen Zugang demonstriert, sondern trotz Kunstkontext anscheinend ganz real als praktische Lösungsmöglichkeit diverser Probleme gesehen wird. Die nicht nur metaphorische, teils geradezu reaktionäre Agrarverherrlichung wundert umso mehr, als ruangrupas Reisbauern- Begeisterung aus einer der größten Metropolregionen der Welt kommt, deren Zentralstadt Jakarta allein über 10 Millionen Einwohner hat. Eine Realität, die den sogenannten »Globalen Süden« stärker prägt als romantisierte Natur. Letztlich ist diese Stuhlkreis-Documenta wie ein Autowerk, das nur Fahrräder produziert oder eine Fluggesellschaft als Taxibetreiber. Das mögen einige gemäß der eigenen Positionierung sogar gut finden, doch ein solcher Paradigmenwechsel samt »Umleitung« der Gelder an Graswurzelkollektive, hat die Aufgabe einer »Weltkunstausstellung« verfehlt. Doch die informative, dringend in »Kasseler Kulturwochen
2022« umzubenennende d15 dokumentiert immerhin die leider schon weit darüber hinaus verbreitete Tendenz zur Abschaffung der Kunst. Es wird Zeit, energisch Widerstand zu leisten.
R.S.: Wir werden sehen. Sam Bardaouil, der seit kurzem zusammen mit Till Fellrath in Berlin den Hamburger Bahnhof leitet, hat lobend und bestimmt behauptet: »Diese Documenta wird die Weise ändern, wie wir Kunst sehen, was wir glauben, was eine Ausstellung darstellt.«
Dem schließe ich mich an. Ich möchte auch daran erinnern, dass schon die documenta 14 zunächst heftig kritisiert wurde, signifikanterweise zum großen Teil von eben den Medienvertretern, die auch jetzt ihre vernichtenden Urteile schreiben. Dennoch hat auch die documenta 14 die Ausstellungslandschaft nachhaltig verändert, zum Beispiel dadurch, dass sie nicht-eurozentristische Kunst zunehmend »hoffähig« gemacht hat.
(Das Interview wurde im Juli 2022 geführt)