Essay

Textauszug

»EINE DOCUMENTA OHNE RUDER - EINFACH LAUFEN LASSEN GEHT NICHT«
Vorrangig sind es Aktivist:innen, Autodidakten oder Künstlergruppen, die aus eigener Initiative und kraft unbeirrlicher Do-it-yourself Energie mit künstlerischen Techniken gegen soziale, wirtschaftliche, klimaökologische und politische Missstände in ihren Ländern agieren. Manchmal kommt Kunst dabei raus. Meistens eher nicht. Professionelle Künstlerpositionen, insbesondere international renommierte oder auf dem Kunstmarkt erfolgreiche sind selten. Über Ästhetik und künstlerische Kriterien wird dort auch zuvorderst nur wenig diskutiert.

Sich wie ein Künstler verkleiden, ist keine schlechte Strategie auf der diesjährigen Documenta. Erst am Freitag Nachmittag, den 17. Juni, während Selma Salman ein leidenschaftliches Plädoyer zu ihrer Arbeit vortrug, wurde eine Arbeit von Taring Padi installiert, die den Kampf gegen Kapitalismus und die brutale Suharto-Diktatur in Indonesien anprangerte. Seither wurde über nichts anderes mehr diskutiert, als über die Frage, wie ein agitatorisches Bild mit eindeutig rassistisch antisemitischen Bildmotiven ins Zentrum der Weltausstellung rücken konnte. Die Crux liegt bekanntlich im Detail, einfache Lösungen gibt es nicht. Aber dass sowohl ruangrupa, das für den Skandal zuständige Künstlerkollektiv Taring Padi, als auch die Geschäftsführerin Sabine Schormann unverantwortlich, zögernd bzw. zunächst gar nicht reagierten, hat zahlreiche Akteure, die die documenta positiv begleiteten, darunter der Berater Meron Mendel und Hito Steyerl, zu schwerwiegenden Distanzierungen gezwungen, die immerhin inhaltlich und strukturell fundiert erläutert wurden. Entschuldigungen folgten, bisweilen aber halbherzig. Die indonesische Künstlergruppe Taring Padi klang reuig, wiederholte aber die problematische Erklärung der antisemitischen Karikatur mit dem Hinweis auf den indonesischen Kontext des Werks. Das Bild sei schon öfter ausgestellt und würde offensichtlich nur in Deutschland so verletzen. Was wiederum etwas über einen inhärenten Antisemitismus im globalen Kunstbetrieb aussagt. Ob hier gelernt werden will? Gab es Initiativen vom künstlerischen Team, namentlich Andrea Linnenkohl, Ayse Güleç, Frederikke Hansen, Gertrude Flentge und Lara Kahldi, die wie von der Bildoberfläche verschwunden schienen? Und was bedeutete das merkwürdige Statement der Mitglieder der Findungskommission, die sich für ruangrupa aussprechen, aber zugleich im zweiten Satz vermerken: »Wir haben den Prozess seiner [der documenta 15] Entwicklung aus der Ferne verfolgt.« Wie bitte? Aus der Ferne? Schließlich waren doch mehrere bei der Preview anwesend, wie ich selber feststellen durfte. Zudem gehören Betreuung und Beratung zu den Aufgabengebieten der Kommission. Stoßen kollektive kuratorische Arbeitsprozesse nicht an ihre Grenzen, wenn keiner Verantwortung mittragen will? Dabei hat es die doch vorab auch schon mehr als erfolgreich gegeben. Das alles gilt es nachzuarbeiten.

Die Documenta Kassel ist durch kommunikatives Versagen an vielen Stellen schwer beschädigt worden. Doch wird sie am Ende nur schlecht dastehen, wenn auch die anderen Akteure weiterhin nicht gehört werden. Es bleibt nur eines: Hinfahren und alles selber anschauen. Das Publikum vor Ort ist offensichtlich angesprochen, vor allem durch die direkten Ansprachen, die Phantasien der Fridskul (der Kinderschule), die schöpferischen Kräfte und das sehr entspannte Grundklima auf der Ausstellung. Die nächsten Debatten stehen noch aus, auch über verantwortliches Kuratieren und eine Verteidigung der Kunst gegenüber einer zunehmenden staatspolitischen Vereinnahmung. Denn das ist eine fatale Entwicklung in Deutschland, die nicht schlimmer hätte angestoßen werden können.

Sabine Maria Schmidt