Essay

Textauszug

Keine Kunst ohne Fiktion
Westliche Fortschrittsparadigmen und formale Innovationsfantasien finden allerdings im 21. Jahrhundert in den kontroversen Debatten über zeitgenössische Kunst kaum noch einen Platz außerhalb spekulativer Kunstmarktpositionen kapitalistisch motivierten Geltungskonsums. Die Politisierung des Kunstumfeldes geht oftmals einher mit einer nicht klar zu erkennenden Unterscheidung zwischen kuratorischer Praxis, kulturellen Rahmenbedingungen, der Präsentation unterschiedlicher Errungenschaften, Verluste bzw. Defizite und der Vielzahl künstlerischer Äußerungen. Wer sich weiterhin unkritisch dem historischen Denken und der Kunst westlicher Avantgarden hingibt oder die Errungenschaften der sogenannten Moderne sowie der Epoche der Aufklärung nicht nach den aktuellen Fragestellungen revidiert, gerät schnell ins Abseits. Ich betrachte Kunst lieber als experimentelle gesellschaftliche Probebühne, wo man das tun darf, was sonst in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen eben nicht geht.«(3) Vielleicht lohnt es sich, den Künsten einen gewissen Freiraum wieder zuzugestehen, der sie von aufmerksamkeitsökonomischen Zwängen ebenso fernhält wie von politischer Instrumentalisierung, um auch wieder für Nicht-Eindeutiges und Unklar-Suchendes etc. ein Forum zu bieten. Ich verstehe, dass dieser Vorschlag bei vielen Menschen, die unter existentieller Not leiden, nicht unbedingt auf direkte Zustimmung stößt. Es bleibt die Frage: Für wen spricht die Kunst?

Roland Schappert