Portrait

Distance, 2022, Installation Konschthal Esch -
Espace d’art contemporain, Photo: Christof Weber

Textauszug

Jepp Hein
Träumen, Schmecken, Yoga machen«, nach einem längeren Burnout und Rückzug aus dem Kunstbetrieb feierte der 1974 in Kopenhagen geborene Jeppe Hein mit einer riesigen Einzelausstellung in Wolfsburg 2016 sein Comeback. Leuchtende Sinnsprüche und bunte Aphorismen und eine extensive Produktion von Aquarellen kündeten von des Künstlers Seelenleben und einem schwierigen Heilungsprozess nach dem Zusammenbruch. Für »Frequency Watercolours« verspritzte der Künstler Wasserfarben aus randvoll gefüllten Klangschalen. Entschleunigung und Innerlichkeit sind seither Motivation der Stunde. Hein möchte nicht nur sich, sondern alle ein wenig glücklicher machen. »Die schönsten Sachen im Leben sind keine Dinge«, sondern ein Lächeln, das als unendlich reproduziertes Smiley-Motiv ganze Tunnelgänge ziert. »Breathe with me« ist ein aktuell internationales Projekt des Künstlers, das über gemeinsames Atmen Verbundenheit, positives Handeln, Achtsamkeit und Zusammenhalt schaffen möchte. Dabei geht es darum, den Atem zu visualisieren, indem er mit einem malerischen Akt verknüpft wird. Die Message des Künstlers ist dabei ausgesprochen simpel. Die Reichweite, die er für diese sucht, allerdings nicht. Vor dem Hintergrund aktueller Umweltverschmutzungen und einer noch immer wütenden Pandemie versucht Hein daraus ein »Global Goal« zu definieren, wie sie von den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen für das Wohlergehen von Menschheit und Erde als Agenda 2030 aufgestellt wurden. »Breathe with me« ist ein partizipatives Performanceprojekt: jeder blaue, gemalte Strich verkörpert einen Atemzug. Klingt peinlich, ist es irgendwie auch. Hein lädt hier zu einem Spiel ein, das er dennoch ziemlich ernst meint. Gemeinschaften schaffen, ist heute kein leichter Job. Gelegenheit für eine kleine Rückschau.

Einen Ball ins Rollen bringen, das kann ein schönes Gefühl sein. Genau das geschah, als man im Sommer 2022 die neue Kunsthalle von Esch-sur-Alzette in Luxembourg betrat. Als beträte man einen Flipperautomaten von innen oder eine riesige Murmelbahn. Manch‘ einer mochte sich auch an die halbautomatisch gesteuerte Ziehungstrommel der Lotto-Zahlen erinnern. Die riesige Installation »Distance« stammt von Jeppe Hein und zog sich durch die Etagen eines ehemaligen Möbelhauses, das nun in ein Ausstellungsinstitut für zeitgenössische Kunst verwandelt worden war. Die Arbeit stammt von 2004 und gehört zu den frühen Arbeiten des Künstlers. Anders als im Le Grand Café – centre d’art contemporain d’intérêt national in Saint-Nazaire, wo die Installation 2014 auf einer Ebene zu sehen war, galt es hier nun drei Ebenen auszufüllen. In über 4.5 Monaten wurden vom Studio Jeppe Hein ca. 70 % der Elemente neu realisiert. Fast drei Wochen dauerte die Montagearbeit und über eine Stunde Besichtigungszeit erwartete den Besucher, um dem 800 Meter langen Parcours, den die PVC-Kugeln zurücklegen, zu folgen. »Distance« meint hier in der Tat die Strecke, die den Besucher, egal ob jung oder alt, kunsterfahren oder fremdelnd zur aktiven Raumerkundung auffordert. Bereits für die Eröffnungsausstellung der neuen Institution im Oktober 2021 hatte der Leiter der neuen Kunsthalle Christian Mosar, den deutschen Künstler Gregor Schneider, einen Meister der räumlichen Verwandlungen, eingeladen. Mit seiner Schau »Ego-Tunnel« inszenierte Schneider eine persönliche Retrospektive auf 3000 qm mit 150 Werken, darunter Rauminstallationen, Objekte, Videofilme und Fotografien.

Für die zweite Ausstellung der neuen Kunsthalle lud er nun ein ganz spezifisches Kunstwerk ein. Der lange und mäandernde Rundgang von »Distance« ist auch als grafische Komposition konzipiert. Die Anlage erstreckt sich über einen Pfad aus feinen Metallpfeilern, die die Schienenführungen für die Kugeln tragen. Fast mühelos überwinden die Kugeln dabei unterschiedliche Bahnen und Höhen, werden von Spiralaufzügen heraufgeführt oder gestupst, beschleunigen oder kommen fast zum Stillstand. Ebenso wichtig ist die akustische Ebene, in der Geräusche, das Metallische, das Krachen und Knarren von Metallteilen einen eigenen Klangraum bilden. Damit schöpft die Konstruktion aus verschiedenen Anregungen aus der Industrieproduktion, filmischen Erfindungen des Science-Fiction bis hin zu den Assemblagen von Jean Tinguely oder Alexander Calder.

In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts dekliniert Jeppe Hein einen spielerischen Minimalismus, lässt Kuben fliegen oder brennen, Pyramiden rotieren, sich Räume verändern. Ähnlich funktionieren Heins manipulierte Spiegelkabinette, die an die Welt des Jahrmarkts und des Zirkus erinnern. Immer geht es darum, Raum zu erforschen, zu erfahren und illusionistisch zu spiegeln. Damit ermöglicht er Selbsterfahrungen und letztlich soziale Begegnungen, die in Ausstellungsräumen erprobt, dann auch in den Außenraum übertragen werden können. Zu einem Markenzeichen wurden die international gefragten Parkbänke (Modified Social Benches), die in schier unendlichem Einfallsreichtum das klassische Parkbankkonzept zerlegen, verbiegen, neu interpretieren und herrliche Begegnungen und Situationen schaffen. Bänke, in die man herauf- oder hineinklettern muss, verbogene, gefaltene, gezackte, in deren Formen man sich förmlich hineinzerlegen muss. Der dänische Künstler reihte sich mit diesen Objekten nicht zuletzt ein in die Reihe innovativer skandinavischer Designer und hat damit auch viele andere Künstler inspiriert. Jeppe Hein gehört damit zu den Künstlern, die auf herausragende Weise Kunst erlebbar machen. Dennoch biedert sich Heins interaktive Kunst nicht bei den Betrachtern an, indem er sie zu sogenannten Mitproduzenten des Werkes erklärt.

Es scheint, als hätte Jeppe Hein einen Doppelgänger erfunden: Der Hein, der vorher mit dem Kopf und Humor spielte, spielt nun mit dem Herz, wie er sagt. Der eine entwickelt Werkserien stetig weiter, der andere konzipiert für Ruinart Food-for-Art/Vier-Gänge-Menüs, bemalt handgemachte Steinzeug-Espressotassen und T-Shirts mit Smileys, der andere entwickelt stetig Werkserien weiter. Der Wunsch, die Welt ein wenig zu verbessern und soziale Begegnungen positiv zu gestalten, verbindet beide. Man darf gespannt sein auf eine nächste (hoffentlich post-esoterische) Dekade des Künstlers.

Sabine Maria Schmidt