vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 126

Portraits

Claus Föttinger | Jonas Weichsel | William Kentridge | Laurel Nakadate

Interview

Dirk Luckow

Page

Karin Sander

Essay

Textauszug

»Systemrelavante Freizeitkunst?«
In den letzten Monaten waren es vor allem zwei Strategien, mit denen sich das arg gebeutelte Betriebssystem Kunst gegen die Schließung vieler ihrer Institutionen zu wehren versuchte: Zum einen erklärte man sich plötzlich als »systemrelevant«, zum anderen reagierte man empört auf die Behauptung der Regierenden, Kunst sei »Freizeit«. Das nicht von der Hand zu weisende Argument, in den Museen sei es im Vergleich zu besagten Shopping Malls doch recht leer, wurde dagegen kaum formuliert, es wäre wohl langfristig ein Eigentor gewesen.

Bemerkenswert ist auch die explizite Weigerung vieler im Kunstbetrieb Tätigen, sich und die eigene Arbeit unter »Freizeit« eingeordnet zu wissen. Zunächst sollte sich da manch ein Ausstellungshaus einmal selbstkritisch an die eigene Nase fassen und über seine arg populistische Ausstellungspraxis – inklusive dem angestrengten Schielen nach möglichst hohen Besucherzahlen – der letzten Jahrzehnte nachdenken. Zudem haben nicht wenige Kunstbetriebler in der letzten Zeit betont, dass ihr möglichst bekanntes und renommiertes Haus als (systemrelevanter) Standortfaktor bedacht werden soll, der die Attraktivität einer Stadt erhöht und es somit für die dort angesiedelten Unternehmen leichter macht, hochqualifizierte Arbeitskräfte anzulocken.

Spannender aber ist es sicherlich über Begriffe wie »Freizeit« versus »Arbeit« nachzudenken. Vom Duden wird Freizeit folgendermaßen definiert: »Zeit, in der jemand nicht zu arbeiten braucht, keine besonderen Verpflichtungen hat; für Hobbys und Erholung frei verfügbare Zeit.« Im Gegensatz zur Arbeit, die dort definiert wird u. a. als »Ausführung eines Auftrages« und »beruflich tätig sein«, also herrscht in der Zeit der Freizeit wesentlich ein Moment der Freiheit vor, also ein Zustand der ja wohl nicht zu kritisieren ist.

Wohl auch deswegen wird die Formulierung »Freizeit« so brüsk vom Kunstbetrieb zurückgewiesen, weil Freizeit schnell in Verbindung gebracht wird mit Unterhaltung. Ist Kunst also bloße (erholende) Unterhaltung? Oder ist sie nicht vielmehr eine Form von (ästhetischer) Bildung? Über diese nicht zuletzt auf Distinktionsgewinne abzielende Unterscheidung hat Bertolt Brecht schon 1932/36 in seinem Aufsatz »Abneigung gegen das Lernen und Verachtung des Nützlichen« klug geschrieben, dass diese Unterscheidung die »rein bürgerliche Trennung der Begriffe ‘unterhaltsam’ und ‘lehrreich’ stützt«. Bertolt Brecht fährt fort: »Dieser Trennung nachzugehen ist nicht ohne Reiz. Es mag überraschen, dass hier eine Degradierung des Lernens schlechthin beabsichtigt ist, indem es nicht als Genuss vorgestellt wird. In Wirklichkeit wird natürlich der Genuss, indem er so sorgfältig von jedem Lehrwert entleert wird, degradiert.«

Unterhaltsame Freizeit bekommt, wenn man nach Brecht so will, dadurch »Lehrwert« und ist daher weit mehr als nur ein Zeit vertreibendes, also Zeit vernichtendes Nachgehen eines Hobbys.

Raimar Stange