vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 126

Portraits

Claus Föttinger | Jonas Weichsel | William Kentridge | Laurel Nakadate

Interview

Dirk Luckow

Page

Karin Sander

Portrait

Espagne Ancienne (Porter with Dividers), 2005, Tapestry, 265 x 358 cm, © William Kentridge

Textauszug

William Kentridge
Um die Zeichnung, das Zeichnen, als Dreh- und Angelpunkte seines Schaffens, kreist auch die Ausstellung »Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work« in den Hamburger Deichtorhallen (verlängert bis 2. Mai 2021). Mit rund 180 Arbeiten aus 40 Schaffensjahren, darunter als eindringliches audiovisuelles Erlebnis: »More Sweetly Play the Dance«, ist es die bisher umfassendste Übersicht über das Werk des renommierten Künstlers und mehrfachen documentaTeilnehmers. Konzipiert wurde die Schau unter dessen Mitwirkung vom Zeitz Museum of Contemporary Art Africa (Zeitz MOCAA), Kapstadt, wo sie zuvor zu sehen war. Azu Nwagbogu und Tammy Langtry kuratierten sie in Kooperation mit dem Kentridge Studio.

Die Ausstellung bündelt zentrale, ineinandergreifende Komplexe aus Kentridges gattungssprengendem Gesamtkunstwerk, atmosphärisch unterfüttert von der aus dem MOCAA übernommenen architektonischen Rahmung der Bühnenbildnerin Sabine Theunissen. Frühe Zeichnungen, Radierungen und Collagen des Künstlers ab 1980 verbinden sozialkritische Beobachtungen mit subversivem Witz und beißender Ironie. Das darin angelegte visuelle Grundvokabular bildet die Basis für alles Weitere. Von dort aus erstreckt sich die Schau über Animationen, Videoinstallationen, Objekte und wandfüllende Tapisserien bis hin zu wunderkammerartigen, modellhaften Versuchsanordnungen und ganzen Environments.

Eine Konstante im Œuvre des Künstlers ist seine anhaltende Auseinandersetzung mit den nachhaltigen weltpolitischen Auswirkungen des Kolonialismus in Afrika. Seine Arbeiten thematisieren aus der Perspektive seines von der Apartheid-Ära geprägten Heimatlandes die weiterhin eklatant spürbaren Folgen kolonialer Ausbeutung, Gewalt, Vertreibung und Diskriminierung, die weit über den afrikanischen Kontinent hinausreichen. »Sowohl die politische als auch die von Menschen geformte, industrielle Landschaft Südafrikas bilden sich darin ab. Aber Südafrika steht auch für die Unvorhersehbarkeit politischer Entwicklungen, also für ein globales Phänomen.«

Das Surreale und Groteske sind für ihn Mittel, die Abgründe und Widersinnigkeiten der Geschichte und Gegenwart greifbar zu machen. Dabei reflektiert er stets auch die eigene Rolle als weißer – und in dieser Hinsicht per se privilegierter – Künstler in einer zerrissenen Gesellschaft mit tiefsitzenden Unterdrückungsstrukturen gegenüber der schwarzen Population.

Erste weitreichende Bekanntheit erlangte Kentridge mit seinem spezifischen Genre animierter Kohlezeichnungen, bei denen der Strich auf dem Papier als Katalysator für fluktuierende Bewegtbilder zum Einsatz kommt: »In meinen animierten Zeichnungen werden Bilder immer wieder ausradiert, überschrieben oder sie gehen in andere Bilder über. Das ständige Auslöschen und Neuschaffen entspricht dem Fluss der Gedanken in unseren Köpfen und auch dem Fluss der Zeit.«

Gleichwohl sind seine stillen und bewegten Bilder nie indifferent: Mit analytischer Präzision und poetischer Komplexität werfen sie Schlaglichter auf die langen Schatten der Geschichte und auf die Gegenwart unserer von Krieg und Zerspaltung, wirtschaftlicher Not, gesellschaftlicher Ungleichheit und Unterdrückung, Umweltzerstörung und nun auch von der Gefahr einer Pandemie massiv bedrängten Welt. Fliehende, Zuflucht Suchende und Heimatlose, die ihre Habseligkeiten mit sich führen, Schiffbrüchige, Lasten- und Leidtragende, Prozessionen menschlicher Silhouetten mit unbekanntem Ziel sind wiederkehrende Figurationen in Kentridges Werk. Belebte Gegenstände wie das Megafon, der Zirkel oder die Bohrgerüste der Minen von Johannisburg sind weitere durchgehende Akteure in den existenziellen Bildpoemen und multimedialen Dramen des Künstlers, die einen weiten Bogen von seinem persönlichen Erleben und Denken in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Südafrikas zu unserem kollektiven Dasein im unaufhaltbaren Fluss der Zeit spannen. Ebenso wie Kentridge uns daran teilhaben lässt, »eine Zeichnung als Moment innerhalb einer Folge von Momenten zu sehen, als vorläufige Tatsache, die sich verändern wird«, macht sein unentwegt in Transformation befindliches Work-in-Progress »die Welt als Prozess anstatt als unverrückbare Tatsache« erkennbar: Darin besteht der hoffnungsvolle, zukunftsgerichtete Vorschlag seiner Kunst.

Belinda Grace Gardner