Essay

Textauszug

Manifesta 11 Zürich
Doch diesmal sollte die Kunst unmittelbar gesellschaftliche Dynamik entwickeln. So wurden direkte persönliche Begegnungen von Beschäftigten aus unterschiedlichen Berufsfeldern mit den Künstlern arrangiert. Das ganz aus der eigenen künstlerischen Arbeit heraus entwickelte aktionistische Konzept des Kurators initiierte Austauschprozesse mit Ärzten und Entsorgern, Uhrmachern und Bootsbauern, Hotelbetreibern und Hundestylistinnen, Sexarbeitern und Bestattern, Feuerwehr, Polizei und vielen anderen. 30 Projekte kamen dabei zu fassbaren Ergebnissen und wurden von Schülern erforscht und von Studenten dokumentiert und gefilmt. Es ist klar, dass diese »Joint Ventures« extrem verschieden sind und sich als private, wenn auch exemplarische Begegnungen nicht leicht publikumsfreundlich präsentieren lassen. Die neu entstandenen Arbeiten werden, durchmischt mit elf Kapiteln einer etwas beliebigen historischen Präsentation zu Kunst über Berufsthematiken und den Künstlerberuf selbst, an zwei auch sonst für Ausstellungen genutzten Orten gezeigt: Im Kunstareal der ehemaligen Löwenbrauerei und im historischen Helmhaus an der Limmat im Stadtzentrum. Letzteres wurde von Santiago Sierra zusammen mit einem Sicherheitsexperten bürgerkriegsmäßig verbarrikadiert, sieht aber widersinnig bloß wie eine brave Baustelle aus, da der Verbau mit Holz, Sandsäcken, Stacheldraht und Kontrollschleuse paradoxerweise gerade aus Sicherheitsgründen nur abgeschwächt zugelassen wurde.

Trotz einiger interessanter Erlebnisorte funktioniert das Konzept aber vor allem für diejenigen, die ohne Kunst zu suchen zufällig auf dergleichen Interventionen stoßen. Wem soll eine solche Veranstaltung zwischen Bürger-Bespaßung und Tourismusförderung eigentlich nützen? Vor zwei Jahren in St. Petersburg ging es darum, die Positionen der zeitgenössischen Kunst gegenüber traditionellen und autoritären Anfeindungen zu stärken und vor vier Jahren im belgischen Genk um das bekannte Thema der Umorientierung einer auf nicht mehr gebrauchte Industrien ausgerichteten Region. Die Manifesta ist immer in einer etwas zwitterhaften Rolle: Sie öffnet mittels Kunst für die Gastgeber ungeahnte Möglichkeiten, soll aber zugleich als PR-Maschine funktionieren. Trotz der Neuerungen in Zürich wurden etwa ein Drittel der Kosten der Manifesta 11 für ein spektakuläres Symbol verwendet, den »Pavillon of Reflections«, eine auf dem Zürichsee schwimmende Holzkathedrale der Kunst. In dieser Mischung aus Bar, Agora, Kino und Naturwasser-Badeanstalt, einem »Badi«, wie die Zürcher sagen, werden die nach genauen, von Jean-Luc Godard abgesegneten Regeln erstellten Film-Dokumentationen zu den Kooperationen gezeigt.

Bei aller gelegentlichen Diskrepanz zwischen Aufwand und Ergebnis liegt der Manifesta 11 ein sehr menschen zugewandtes Konzept zugrunde, das nicht erstrebt, so schillernde Oberflächen in aktueller Corporate-Ästhetik zu produzieren wie das New Yorker Künstler-Kuratoren-Team der zeitgleichen Berlin Biennale.

Hajo Schiff