Portrait

Utopia, Utopia, 2019, Various natural tones of beeswax, wood panel, steel, 244 x 124 cm, Photo: Courtesy Horsens Kunstmuseum

Textauszug

Nick Theobald
Bienenwachs, Leinwand, verkohltes Holz, Stahl und Eisen, echte oder in Bronze abgegossene Hanfseile. Die Materialpalette des 1986 in Los Angeles geborenen amerikanischen Künstlers Nick Theobald lässt sich weitgehend auf diese Werkstoffe reduzieren, obwohl er im Einzelfall auch andere Dinge wie etwa einen Naturschwamm, plombenartige Versiegelungen aus Gold oder chinesisches Joss Paper in seine Arbeiten integriert. Nick Theobald: »Ich denke, wenn man als Künstler mit irgendeinem Material arbeitet, ist es wichtig, beharrlich zu bleiben. Sich auf ein bestimmtes Set von Parametern zu beschränken. Meine Materialien – Bienenwachs, Leinen, Stahl, Hanfseile – sind größtenteils gleich geblieben. Meine Arbeiten verändern sich nicht radikal von einer Werkgruppe zur nächsten.« All seinen Arbeiten eingeschrieben sind jedoch markante Dichotomien und Ambivalenzen. Dauerhaftigkeit und Verfall, Prekarität und Stabilität, Sensibilität, Schönheit und Grauen, Utopie und Dystopie reichen sich in seinem Werk die Hand. Bezüge zu seiner Biografie bilden eine weitere Folie für das Lesen seiner Werke. Viele seiner Arbeiten können als individuelle Bedeutungssetzungen oder Manifestationen des Selbst gelesen werden. Spirituell ausdeutbare, höchst individualistische Annäherungen an die Wirklichkeit gehören zu den weiteren Kennzeichen seiner Ästhetik.

»Return to Sender« kann als Schlüsselwerk zum gedanklich-künstlerischen Kosmos von Nick Theobald gelesen werden. Hier begegnen und verdichten sich mehrere symbolische und metaphorische Setzungen, die auch in anderen Arbeiten auftauchen, zu einer großen, obsessiven, für Außenstehende aber nicht ganz leicht zugänglichen »Individuellen Mythologie«. Genau diesen Begriff hat Harald Szeemann, der Schweizer Ausstellungsmacher und Leiter der documenta 5 (1972), bereits Anfang der 1960er Jahre geprägt, um darunter künstlerische Positionen zusammenzufassen, in welchen die Künstler:innen Räume schaffen, die sie mit persönlichen Gegenständen und Erinnerungsstücken zeichenhaft und symbolträchtig ausstatten. Oft auch mit Bezügen zur Archäologie, Ethnologie und nicht-westlicher Kunstpraxis.
Was Nick Theobalds Materialästhetik auszeichnet, ist seine besondere Beziehung zu Bienen und dem von ihnen abgesonderten Stoffwechselprodukt Bienenwachs.

Eine spezielle Eigenschaft von Bienenwachs stellt auch das große Farbspektrum dar, welches von nahezu weißen Wachsen über alle möglichen Beige-, Gelb- und Brauntöne bis hin zu fast schwarzen Tönen reicht – immer abhängig davon, welchen Blütenpollen die Bienen aufgenommen haben.
Nick Theobald macht sich diese Tatsache zunutze, wenn er, wie etwa auf dem Diptychon »Utopia, Utopia« (2018), nahezu das ganze natürliche Farbspektrum des Wachses anstelle von Öl- oder Acrylfarben verwendet. Das großformatige Bild mit Anklängen an den Abstract Expressionism erhält seinen Reiz durch das vielschichtige Über- und Untereinander von Wachsschichten, die an Wolken, Kleckse, Pfützen oder Spritzer erinnern. Mitunter auch an menschliche Hauttöne. Nick Theobald erzeugt diese Formen- und Farbenvielfalt, indem er auf die schräg an der Atelierwand lehnende Leinwand Wachs aufträgt und dieses dann mit einer Heißluftpistole gezielt zum Schmelzen bringt. Gegen die Makellosigkeit dieser glatten Oberflächen arbeitet er jedoch auch wieder an, indem er diese anschließend mit einem spitzen Gegenstand linienförmig einritzt, um so eine feine Balance zwischen Perfektion und Imperfektion herzustellen. Dabei entstehen mitunter reliefartige Strukturen, die bei manchen Betrachter:innen durchaus die Vermutung nähren, es handele sich gar nicht um Malerei. Dazu Nick Theobald: »Ich betrachte sie zwar als Gemälde, aber Kunst betrachte ich immer mehr auch als ein System der Informationsaufzeichnung, Relikte unseres Jahrhunderts. Ich sehe Gefühle in Wachs transkribiert, übergossen, ausgelöscht. Die Schichten offenbaren die vergehende Zeit. Oft betrachte ich die Landschaft; die flüchtige Natur unserer natürlichen Ressourcen - die Narben des Landes, das wir von unseren Vorfahren geerbt haben, überlagert von den Spuren unserer eigenen Einschreibungen.«

Nick Theobald hat New York City angesichts der Pandemie und astronomisch hoher Ateliermieten verlassen und ist, wie so viele andere Künstler:innen, aufs Land gezogen. Er hat damit auch der New Yorker Kunst- und Modeszene, deren etabliertes Mitglied er war, den Rücken gekehrt. In der Kleinstadt Palmyra ganz im Norden des Bundesstaates New York hat er das Gebäude einer ehemaligen katholischen Schule gekauft, in dem er jetzt mit seinen vier Hunden lebt und arbeitet. Palmyra gilt als Geburtsstätte der allgemein als Sekte eingestuften Mormonen-Bewegung. Die Mehrheit der Einwohner:innen ist konservativ, antiliberal und nationalistisch eingestellt. Eigentlich kein ideales Umfeld für einen freigeistigen, viel in der Welt herumgekommenen Künstler. Was Nick Theobald jedoch daran schätzt, sind die Ruhe, die Nähe zur Natur, der Platz und die überschaubaren Kosten.

Mit den politisch-gesellschaftlichen Ansichten seiner neuen Nachbarn setzt er sich in einer seit 2022 entstandenen Fotoserie auseinander. Mit einer einfachen Analogkamera fotografiert er Kurioses und Befremdliches aus seiner Nachbarschaft in ungekünstelter Schnappschuss-Ästhetik. So etwa einen in den Nationalfarben lackierten Metallkasten mit der Aufschrift »Retired U.S. Flag Drop Box«, in welchem Bürger des Ortes ihre ausgeblichenen oder zerschlissenen US-Flaggen deponieren können. Diese werden dann feierlich verbrannt. Auf anderen Bildern sind Autoaufkleber mit rechtslastigen Botschaften zu sehen. »Socialism sucks« etwa steht da auf einem Toyota-Kotflügel oder »DYING« auf einem Autokennzeichen. Es handelt sich um einfache, kleinformatige Abzüge in Drogeriemarktqualität. Alle diese Aufnahmen sind mit einem Aufdruck des Entstehungsdatums versehen. Insofern bietet diese neue Werkgruppe einen bemerkenswerten Kontrast zu der Zeitlosigkeit seiner malerischen und skulpturalen Arbeiten.

Nick Theobald betrachtet sich eigentlich nicht als politischen Künstler. Er betont dagegen die Emotionalität seiner Arbeiten. Angesichts der Pandemie, diverser Aufsehen erregender Amokläufe, des Rassismus, der Waffenbegeisterung und des Nationalismus in seiner Heimat, der Black Lives Matter-Bewegung, des Ukraine-Krieges und anderer politisch-gesellschaftlicher Krisen und Verwerfungen verschließt er vor diesen Einflüssen aber gerade in seinen neueren Arbeiten auch nicht die Augen.

Nicole Büsing / Heiko Klaas