Portrait

Diametrale Wahrnehmung, 2021, Video, 08:00 min., © Hassan Sheidaei - Videostill

Textauszug

Hassan Sheidaei
Hassan Sheidaei wurde 1984 in Teheran geboren. Nach dem Kunststudium an der HfK Bremen ist er seit 2019 freischaffender Künstler, mit einem Atelier im Künstlerhaus Bremen. Stipendien, Nominierungen, Preise spiegeln die Beachtung seiner Arbeiten. Nicht unwichtig für den Blick auf sein Schaffen: Dem Studium der Freien Kunst in Bremen ging eines von Grafik, Wissenschaft und Kultur an der Universität Teheran voraus. Welche Erwartungen an seine Kunst wecken in dieser Zeit Biografie und Herkunft des Künstlers?

Schweres Klang-Geschütz für die irritiert blökenden Tiere. Die Geschichte von Megaphonen, ihr gewöhnlicher Gebrauch klingt im Video an, doch von Masse und Lärm kann nicht allein die Rede sein. Die Megaphone erhalten in der spielerisch-humorvollen und zugleich auf verhängnisvollem Ernst basierenden Verfremdung eine erweiterte Identität. Sie werden zu Sprachrohren in der abgelegenen Provinz, zu Katalysatoren einer stumm schreienden Erschütterung und verhallenden Hilflosigkeit. Sie tragen zugleich eine stille, zärtliche Geschichte mit sich, in der das Scheitern des mütterlichen Rates doch noch alles Trostglück enthält, das in Kind erfahren kann. In ihnen schwingt jetzt die Welt der Schlaflosigkeit mit, das vom globalen Krisenmodus befeuerte Nächte-Durchwachen, das Auf-der-Stelle-Kreisen mit seinen Bilderwellen und Gedankenfluten, das tosende Verstummen an der nächtlichen Schnittstelle von Privatem und Politischem. Die Megaphone als rabiate Trotzinstrumente werden zu lebendigen Materialen, treten animiert auf, werden in das konkrete Leben gerufen und dabei zu Akteuren.

In der Geschichte um Schlaf und Schaf spiegeln sich zentrale Momente von Sheidaeis Kunst. Sie hat viele Gesichter, nicht weil der Künstler die Abwechslung liebt, sondern weil sein Blick auf die Welt und sein Verständnis ihrer ästhetischen Durchdringung dies verlangen. Sein Werk verfolgt viele Motive und fächert sich in mehreren Medien auf. Weil sein Thema den Zugang auf verschiedenen Sinneskanälen dies erfordert. Ihm geht es um den Menschen, als Einzelner und als Gemeinschaftswesen. Man mag darin Hybris sehen, aber auch das Bestreben nach ganzheitlicher Wahrnehmung. So gleicht Sheidaeis Schaffen einer steten Pendelbewegung. Ein Hin und Her - ob sich dies nun in Ambivalenz, Ambiguität oder Dialektik ausprägt - stößt weitere Pendelausschläge an, führt andere mit, zieht neue nach sich: Denken und Empfinden, Verstand und Gefühl, planen und handeln, Konzept und Ausführung, Aufklärung und Poesie.

Was wie eine Polarität oder gar ein Gegensatz erscheint, ist bei Sheidaei Zusammenklang. Er betreibt Aufklärung, er schafft Poesie. Er ist ein poetischer Aufklärer und/oder aufklärerischer Poet, ohne dass das eine hinter dem anderen zurückstehen würde. Ausgreifen und Pendeln würden aber nicht funktionieren, gäbe es nicht auch ein zügelndes Element. Das heißt Reduktion. Das Einfache ist der Ergebnis einer Rückführung der Komplexität, eine Maßnahme, die selbst komplex ist. Es ist komplex, anderes und andere zu beobachten, es ist kompliziert anders zu beobachten. Wie schwer es ist, einfach zu werden, ohne die Komplexität und damit die Durchdringungs- und Darstellungshöhe aufzugeben! Sheidaei gelingt es.

In vielen seiner Arbeiten verwendet Hassan Sheidaei Klang. Er arbeitet häufig mit Komponisten zusammen. In dem Video »Diametrale Wahrnehmung« weisen die Bilder eine ähnlich streng durchkomponierte Struktur auf wie die Musik: ein Tableau von einzelnen Augen in Nahaufnahme erscheint zwischen Realismus und Abstraktion wie ein Ballett von Pupillen, Lidern und Wimpern. Die Wimpernschläge bilden ein Pendant zur perkussiven Musik, in ihrem unkoordinierten Zeitmaß wirken sie wie tierische Wesen in flatternden, huschenden Bewegungen. Augen, die unruhig umherschweifen, werden zu Augen, deren rhythmische Rastlosigkeit den Blick der Betrachtenden aufwirbelt. Mit dieser Video-Arbeit hat Hassan Sheidaei die Jury überzeugt und den 8. Ottersberger Kunstpreis 2022 gewonnen.

Die Pendelbewegungen in Sheidaeis Werk, der Wechsel der Betrachtungsmodi zwischen dem Großen und Kleinen, dem Beiläufigen und tief Verankertem, das Hin und Her der Reflexionsweisen, werden in einer Zusammenschau der beiden frühen Arbeiten »Enthusiasmus« und »Das Blatt« anschaulich. Der Künstler führt das Video »Enthusiasmus« auf seine Beschäftigung mit Kants Gedanken zu den Voraussetzungen der menschlichen Erkenntnis zurück. Ihn habe die Idee fasziniert, »dass die menschliche Erkenntnis von Zeit, als innerliche Sinnlichkeit, von Raum, als äußerliche Sinnlichkeit, geprägt ist. Zeit und Raum, die à priori bei Menschen vorhanden sind, fungieren hier als eine Art Brille zwischen Mensch und Ding.« Diese Brille, auch als Filter oder Membran zu verstehen, lässt Zeit als Inneres und von innen, Raum als Äußeres und von außen wahrnehmen, wobei beide Dimensionen sich in der menschlichen Existenz verbinden.

Dass Hassan Sheidaeis Vater Dichter ist, dass der Künstler mit der persischen Dichtung im Kontext einer traditionsreichen bildhaften und klangmächtigen Poesie aufgewachsen ist, dass er Philosophie nicht in akademischen Formaten, sondern in privaten Studien betreibt, dass er aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse auf ihre Strukturen, Ursachen und grundsätzlichen Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft hin befragt, das prägt sich als Vielfalt und Substanz zugleich in sein Werk ein. Erkenntnis, Ethik und Ästhetik treten hier in einen Austausch. An den Stellen, an denen sie sich begegnen ist seine Kunst angesiedelt: materialbezogen, formbewusst, ambivalent, ergebnisoffen.

Rainer Beßling