vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 102

Portraits

Nadira Husain | Thomas Baldischwyler | Elizabeth Price | Reinhold Budde | Berlinde de Bruyckere

Interview

Esther Schipper

Page

Matthias Ruthenberg

Portrait

Into One-Another III To P.P.P., 2010, Wax, epoxy, iron, wood, glass, 193 x 182 x 84 cm / 76 x 71 5/8 x 33 1/8 inches, Private Collection, New York, © Berlinde De Bruyckere. Courtesy Hauser & Wirth, Foto: © Mirjam Devriendt

Textauszug

Berlinde de Bruyckere
Wer ihre Installation im Jahre 2013 im belgischen Pavillon auf der Biennale von Venedig gesehen hat, wird sie schwerlich wieder vergessen. Um ihr plastisches Werk »Kreupelhout/Cripplewood« (2012/13) in den imponierenden Maßen von 230 x 1790 x 410 cm im Hauptraum, einem makellosen white cube, zu exponieren, hat Berlinde de Bruyckere dessen Oberlicht mit Jutesäcken verhängt, die Wände schwarz gestrichen und den Boden mit grauem Estrich bedeckt. Statt in einen lichten Ausstellungsraum tritt der Besucher, aus der ihn blendenden venezianischen Sonne kommend, in eine Art Grabkammer, in ein Mausoleum. Sobald sich seine Augen an das matte Licht gewöhnt haben, nehmen sie im Zentrum des Raumes, auf dem Boden liegend, eine geschundene organische Masse wahr: den mächtigen, entwurzelten, gewissermaßen nackten Torso einer Ulme, der man alle Zweige und Äste abgenommen hat. Von ihr losgelöst, aber eng an sie geschmiegt, folgen sie ihrer horizontalen Ausrichtung, statt sich seitwärts in den Raum zu erstrecken, und forcieren so den Eindruck einer Exekution. Die offensichtlichen Verletzungen, die der Baum erlitten hat, werden durch die Existenz von Baumwolltüchern, Decken und Lederbändern unterstrichen, mit denen die Zweige und Äste umwickelt sind, als habe man ihre Wunden versorgen wollen. Das Gefühl, es bei diesem Baum mit einem menschlichen Wesen zu tun zu haben, wird noch durch die bleiche Farbe seiner Rinde verstärkt sowie durch seine blutrot schimmernde Haut, die dort sichtbar ist, wo man in den Baum hinein geschnitten hat. Die Farbigkeit der Plastik verdankt sich der hohen Kunstfertigkeit seiner Schöpferin. Anders als Land Art Künstler, die, was sie an Steinen und Zweigen in der Natur finden, oft direkt in den Kunstraum tragen und dort zu Werken arrangieren, hat Berlinde de Bruyckere ihren Baumstamm und seine Zweige in Expoxidharz abgeformt und mit vielen Schichten von durchscheinendem, pigmentiertem Wachs überzogen, bis ihrer Plastik ein hohes Maß an anthropomorpher Lebendigkeit eignet – ein künstlerisches Verfahren, das man sich angewöhnt hat, als weitgehend identisch mit dem Werk der Künstlerin zu denken. Die stoffliche Metamorphose, die sich dabei vollzieht, stattet die Arbeit mit Ambivalenzen aus, die auch für de Bruyckeres Installation in Venedig charakteristisch sind. Ein Baum, der einem Menschen ähnelt. Das führt beim Betrachter zwangsläufig – und ohne politische Plakativität – zu Überlegungen, wie wir heute mit der Natur umgehen.

Als Kurator für ihre Arbeit im belgischen Pavillon auf der Biennale von Venedig hatte die 1964 in Gent geborene Künstlerin den südafrikanischen Schriftsteller J. M. Coetzee gewinnen können, dessen Bücher sie seit längerem bewundert.

Jenseits der anspielungsreichen Stigmatisierung des Krüppelholzes durch den Dichter steigt aus der Installation indes noch ein anderes Bild auf, in dem ein solches Holz ebenfalls anthropomorph aufgefasst wird. Das des Philosophen Immanuel Kant, der in einem berühmt gewordenen Wort vom Menschen ganz allgemein als »krummes Holz« sprach, das »nicht ganz gerade« werden will. Was umso bemerkenswerter ist, da er als Philosoph der Aufklärung hoffnungsvoll an der Befreiung des Menschen »aus selbst verschuldeter Unmündigkeit« arbeitete, hier indes quasi im selben Atemzug am letztendlichen Erfolg seines optimistischen Projektes zu zweifeln scheint. Eine Haltung, die in etwa dem trotzigen »Credo quia absurdum« des Kirchenvaters Augustinus entspricht und auch dem künstlerischen Tun von Berlinde de Bruyckere.

Denn ein um das andere Mal legt sie in ihren Werken den Finger auf alle Arten menschlichen Makels, wobei sie nicht aufhört, den Menschen in seiner Verwundbarkeit und Fragilität zu lieben. Das wird nirgends so deutlich wie in ihrer großen, retrospektiv angelegten Ausstellung, die gegenwärtig im Stedelijk Museum voor Actuele Kunst in Gent, der Heimatstadt der Künstlerin, gezeigt wird, um danach ins Gemeentemuseum nach Den Haag weiterzuwandern.

Michael Stoeber