vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 102

Portraits

Nadira Husain | Thomas Baldischwyler | Elizabeth Price | Reinhold Budde | Berlinde de Bruyckere

Interview

Esther Schipper

Page

Matthias Ruthenberg

Portrait

O.T., (MDC04), Mixed media, 2013, 146 x 114 cm

Textauszug

Thomas Baldischwyler
Thomas Baldischwyler verwendet gerne den Begriff »Exit-Strategie«, wenn die Rede auf seine hakenschlagende künstlerische Methode kommt. Ist eine Werkgruppe abgeschlossen, wird ein Ausweg gesucht, um sie zu beenden und sich neuen Fragestellungen und Feldern zuzuwenden. Ihm scheint es darum zu gehen, bloß keine übertriebene Virtuosität oder Könnerschaft entstehen zu lassen, die am Ende zum langweiligen Signature Style gerinnen könnte, der sich vielleicht gut vermarkten lässt, sich letztlich aber nur an sich selbst berauscht. Das künstlerische Feld wird zudem regelmäßig mit Elementen aus dem musikalischen Feld aufgeladen und umgekehrt. Es gibt immer wieder falsche Fährten, Doppeldeutigkeiten, irritierende Anspielungen, gezielte Desinformationen, Täuschungsmanöver, Fakes und Fallstricke.

Vom klassischen Künstlertyp, der sich als Maler oder Bildhauer in seinem Atelier an immer neuen Werken abarbeitet, ist Thomas Baldischwyler weit entfernt. Im Jahr 2006 fand man ihn drei Monate lang fast täglich im Kunstverein in Hamburg. Er hatte in der unteren Etage einen Plattenladen der etwas anderen Art aufgemacht. Das künstlerische Projekt, angeregt vom damaligen Kunstvereins-Direktor Yilmaz Dziewior, verstand sich als Plattform für ausgewählte Musik und deren Repräsentanten. Natürlich konnte man Raritäten kaufen, aber auch Video-Interviews mit unterschiedlichen Protagonisten der Musikszene ansehen. Thomas Baldischwyler organisierte außerdem Abendveranstaltungen und Diskussionen, und wer wollte, ging anschließend noch mit in den Golden Pudel Club, um die Fragestellung des Abends beim Bier zu vertiefen. Alles funktionierte als Gesamtkonzept, von den selbst gestalteten Einladungskarten und Plakaten bis hin zum Shop-Design.

Ein Medium, das Thomas Baldischwyler besonders am Herzen liegt, ist die Künstlerschallplatte. Limitierte Aufnahmen auf Vinyl sind vergleichsweise preisgünstig herzustellen. Die Künstlerschallplatte ist ein demokratischer Gegenstand, der ein breites Publikum erreicht, nicht nur vermögende Sammler, die etwas Repräsentatives für ihr Privatmuseum suchen. Thomas Baldischwyler liebt es, Objekte mit Verwirrungspotenzial herzustellen. Sein eigenes Label »Travel By Goods« spielt mit gefakten Diskographien. Baldischwyler, der schon als Jugendlicher Musikzeitschriften verschlungen hat, legt auch als Musikproduzent immer wieder falsche Fährten, entwirft Logos, die mehr versprechen als sie halten. Er tritt selbst gerne in den Hintergrund, und behält dennoch die Fäden in der Hand. Er agiert gut vernetzt an der Schnittstelle zwischen Musik und bildender Kunst, verfolgt gleichzeitig mehrere Stränge, um irgendwann mal wieder ein Kapitel endgültig abzuschließen: Von der Exit-Strategie kommt er einfach nicht los.

Nicole Büsing / Heiko Klaas