Artist Ausgabe Nr. 109

Portraits

Nick Koppenhagen | Lili Reynaud Dewar | Rochelle Feinstein | Albert Oehlen | Jimmie Durham

Interview

Susanne Titz

Page

Michael Schmid

Edition

Michael Schmid

Essay

Roland Schappert: FLIEHENDE WERTE,
Wandmalerei im Museum Morsbroich, Leverkusen, 2016,
Ausstellungsansicht: Drama Queens,
© R. Schappert und VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Textauszug

»Irre führen – zwischen Kunst, Urban Art und Post-Internet«
Kann heutzutage innerhalb des Kunst-Kontextes etwas rebellisch, verstörend und zugleich populär sein? Oder sind inzwischen auch die virtuellen Spielorte des Post-Internet-Zeitalters zu potentiellen Marktplätzen realen Kommerzes netter Start-up-Künstler avanciert, nachdem zuvor jede Subkultur und so mancher Netzaktivismus in fröhlichem Pop aufgingen, als sie der Kunst zu nahe kamen und Street- und Urban Art, HipHop, Rap sowie Skateboarding sich im allgemeinen Lifestyle einrichteten – während ehemals gesellschaftskritische Graffiti Ichbestätigung als Volkssport designten?

Erinnern wir uns überhaupt noch an ernst gemeinte politische Kunst, die ihre reale Wirkung außerhalb des Kunst-Kontextes immer wieder verfehlte? Und denken wir bei Graffiti noch an Protest und Vandalismus als ursprüngliches Anzeichen von Fame? Aus der Perspektive der Kunst: Wie viel Ortsbezogenheit und Geschichtsbewusstsein braucht ein gutes Mural wirklich? Wann und für wen sind Wandmalereien und Straßenaktivismus im öffentlichen Raum erstrebenswert? Für wen sind sie Kunst, Schmiererei oder anonymer Mitteilungsdrang von nervenden Underdogs und ewig pubertierenden Freelancern auf Egotrip? Wertexplosionen und Banksy-Effekte befeuerten den Markt, bis jede Radikalität durch schützende Plexiglasscheiben ins Gegenteil verkehrt wurde. Verbreiten nun die verbliebenen Akteure der Street- und Urban Art einen selbstbezogenen Hedonismus oder sind sie glaubwürdige Verfechter einer global vernetzten Kommunikationsguerilla? Ermüdende Grabenkämpfe zwischen High and Low, Kunst und Nichtkunst schienen längst überwunden, als Werbegrafiker, Designstudenten und Freaks gemeinsam ihren Marsch durch die Galerien, Sammlungen und Institutionen der Kunst antraten, die Straße mit der Leinwand tauschten und den Kanon der Modernen Kunst, deren Fortschrittsglauben und Unterbietungslogik mit smartem Schwung aus den Stilschubladen warfen. Auf dieselbe Weise scheinen nun die Designer, Programmierer und Start-up-Künstler der Post-Internet-Art vorzugehen.

Man fühlt sich komplett in die Welt der Wirtschaft involviert. Distanz, Kritik und Autonomie erscheinen nicht mehr möglich, individuelle Stilfragen uninteressant. Hiermit stellt sich erneut die wesentliche Frage nach einem spezifischen Wert der Kunst, die nun aber in die Irre führt oder als irre Führung firmiert. Wenn es sich immer noch um ein Spiel der Kunst handeln soll, dann lassen sich mit diesen Mimikry-Manövern zwar Ideologen und Dogmatiker, die als unverbesserliche Miesepeter am Spielfeldrand stehen, erfolgreich abwehren, Großkapitalisten und Monopolisten mag es dagegen erfreuen. Bleibt die Frage, wohin die Kunst flieht und wer am Ende von der tautologischen Geste engagierter T-Shirt-Verkäufer, Druckmonster, Start-up-Künstler, Unternehmensberater und Wellness-Trainer profitiert, die sich auf Kunstausstellungen und Biennalen ihr neues Schild um den Hals hängen: ICH BIN KEIN KÜNSTLER. DIES IST KEINE KUNST.

Roland Schappert