Artist Ausgabe Nr. 109

Portraits

Nick Koppenhagen | Lili Reynaud Dewar | Rochelle Feinstein | Albert Oehlen | Jimmie Durham

Interview

Susanne Titz

Page

Michael Schmid

Edition

Michael Schmid

Portrait

Gefühlte Position der Monate im Jahr,
2016,
Gouache und Digitaldruck auf Steinpapier,
21 × 21cm

Textauszug

Nick Koppenhagen
Sichtbarmachungen statistischer Prozesse und individuelle, aber durch konzeptionelle Vorgaben präzise gesteuerte Erfassungssysteme können zu einer Kartographie von hohem ästhetischem Reiz werden: In feingezeichneten Tortendiagrammen erfasst der 1987 in Hamburg geborene Künstler Nick Koppenhagen täglich die Witterung und seine aktuelle, von verschiedenen Faktoren abhängige Stimmung. Das dazu gewählte Farbsystem dekodiert sich in einer seltsamen Mischung von objektiven Daten, wie »Hagel« oder »Kondensstreifen«, und höchst individuellen, fast abwegigen Kriterien, wie »gelbe Beeren« oder »Magenschwere«. Allem entsprechen jeweils eigene Farbtöne und kleine Muster, sorgfältig täglich in eines der 365 Segmente des Kreises eingetragen. Im Ergebnis der langen Arbeit entsteht ein nachvollziehbarer Jahreskreis, vom kühl hellen Winter zum grün-gelben Sommer. Solch ein zugleich akribisches und ungewöhnliches Erschließungssystem der Eigen-Welt bleibt aber nicht hermetisch und auf den Künstler beschränkt. Die erstaunlich schönen Blätter zeigen allerdings eine etwas andere Jahreswahrnehmung als üblich: den vier Jahreszeiten entspricht hier keineswegs ein Viertel des Kreises, vielmehr ergibt sich eine stimmungsmäßige Verschiebung, die zudem in weiteren Blättern einer »gefühlten Jahresuhr« thematisiert wird – und die wohl viele auch schon bei sich selbst bemerkt haben.

Es gehört eine gewisse Besessenheit dazu, in Tagesübersichten und Monatsplänen die Eigen-Welt immer wieder systematisch zu beobachten, zu notieren und in Farbsysteme zu übertragen: So wurden 2015 für eine 4,5 mal 2 Meter große Arbeit alle drei Stunden die eigenen Stimmungen auf einem Terminplan verzeichnet und die insgesamt 2.174 Stimmungsschwankungen eines Monats auf ein Nesseltuch übertragen. Obwohl es ja um sensible Erforschung des individuellen Weltbezuges geht, scheint für die zeichnerische Erfassung mitunter eine kalte, etwas buchhalterische Konsequenz notwendig, jedenfalls ein diszipliniertes Durchhalten der eigenen Vorgaben.

Bei aller Ästhetik seiner bisherigen Erfassungssysteme geht es Nick Koppenhagen nicht darum, aus peripheren kommunikationstheoretischen Methoden bloß neue Bildformen zu gewinnen. Seine grundlegende Konzeptualität ist durchaus an Inhalten interessiert. Und auch wenn Diagramme etwas sichtbar machen können, was vorher auf diese Weise nicht sagbar war: Die Sprache selbst bildet einen weiteren wesentlichen Schwerpunkt seiner Arbeit – auch schon in seinen frühen Buchstaben-Zeichnungen. So ist er Gründer und Betreiber des Audioformats »kunstgespraeche.com«, einer Sammlung von offenen Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.

Hajo Schiff