Interview

Dave Gibson, Fineline, Tattoo, Deep River, CT, 1992, Baumwollfaden auf Stramin, 90x 90cm, Foto: Wolfgang Günzel

Textauszug

Jochen Gerz
Bei Kunst im öffentlichen Raum stoßen wir auf eine weitere Spezies, der bürgerlichen Gesellschaft besteht doch gerade darin, daß die Individuen mit einem abstrakt freien Willen ausgestattet sind. Sie sind doppelt bestimmt, und zwar als Privatbürger und als Staatsbürger. Entsprechend verdoppelt sich die Gesellschaft in Gesellschaft und Staat. Das Allgemeine und das Besondere fällt nicht mehr in eins. Nur unter diesen Bedingungen kann sich die Kunst dem unmittelbaren Zugriff anderer, sei es des Fürsten oder der Kirche, entziehen. Auf diese Weise ist die Kunst autonom und frei. Jedoch hat diese Emanzipation notwendig dazu geführt, daß die Kunst gesellschaftlich zu vermitteln hat. Gefährdet der Auftraggeber, sofern es nicht nur formal agiert, diese Autonomie? Sie schlagen einen spezifischen Umgang mit diesem Auftraggeber vor, geben Sie in Ihren Konzepten nicht voreilig diese Autonomie preis?

Dieser spezifische Umgang gilt nur für die Bremer Arbeit. Ich möchte das, was man früher das Politische genannt hat, in die Kunst hineinstülpen. Als ich den Auftrag bekam, hatte ich das Gefühl, daß die heutigen Fürsten, das heißt die demokratisch gewählten Vertreter des Volkes, einen etwas sorglosen wie automatisierten Umgang mit diesem auftraglosen Auftrag pflegen. Sie verstehen leider diesen Auftrag nicht mehr als Errungenschaft, daher wollte ich ihr Selbstverständnis und ihre Verantwortung hinterfragen und thematisieren....

...Einerseits akzeptieren sie die Kritik an der Kunst im öffentlichen Raum, andererseits halten sie an diesem Ort fest. Es gibt Konzepte, die auch auf der kategorialen Ebene versuchen, über die bisherigen Entwürfe hinauszugehen. Statt von Autonomie ist von Finalisierung die Rede. Kunst dürfe sich nicht selbst genügen, sondern habe zweckgerichtet im öffentlichen Raum zu agieren. Kunst müsse generell öffentlich und nützlich sein, alltägliche Handlungsabläufe, Gebrauchs- und Bedürfniszusammenhänge einbeziehen. Sind diese Überlegungen für ihre eigene Arbeit relevant?

Die Debatten, die Ende der 80er Jahre über dieses Thema gelaufen sind, haben keine große Originalität und sind großen Teils Remakes. Ich möchte die Temporalität in die Kunst hineinbringen. Eine nach wie vor interessante Aufgabe. Zum einen sind wir temporal, zum anderen ist es uns gelungen, Objekte zu machen, die von der Zeit unabhängig sind. Lange Zeit bestand ein starker emotionaler Bezug zu dieser Errungenschaft. Aber angesichts der nicht recycelbaren Dinge, die uns immer dichter umgeben, von unserem Kulturbegriff bis hin zum nuklearen Abfall, sind wir wieder stärker an uns selbst interesssiert und orientiert, das heißt an der Temporalität. Insbesondere durch die neuen Medien ist die Kunst in der Lage, zeitlich zu sein und Zeitliches darzustellen. Eine Arbeit, die für mich nach wie vor noch nicht geleistet ist. In unserer durchfunktionalisierten Gesellschaft ist ein disfunktionaler Raum, gleich, wo er entsteht, ein Gewimm. ...

...Überraschend ist das zunächst immateriell angelegte Konzept doch noch um eine materielle Ebene erweitert worden. In Hamburg hingegen wurde das Kunstwerk sukzessive versenkt und somit zum Verschwinden gebracht. Ein Prozess vom Materiellen zum Immateriellen. In Bremen scheinen Sie einen umgekehrten Weg gegangen zu sein. Der Kommunikationsprozeß wurde erweitert. Der Boden dieses Refugiums besteht aus einer betretbaren Glasplatte und einer in Größe und Zuschnitt gleich bemessenen Stahlplatte mit den Namen der beteiligten Autoren. Zwar betonen Sie, die Verortung des kommunikativen Prozesses sei nicht die Skulptur, sondern die Stelle, an der Eingeladen wird, sie sich vorzustellen. Dennoch erinnert mich diese Platte mit den eingravierten Namen auch an ganz traditionelle Mahnmale, nur daß hier die Namen von Lebenden eingraviert worden sind.

Der Aussichtsstelle auf der Brücke, die so aussieht wie Kunst, habe ich diesen Kunstcharakter abgesprochen. Es ist keine Kunst, sondern eine Aussichtsstelle. Die Auskragung hat mit Kunst nichts zu tun. Die Fragebögen sind keine Kunst, die Zeit, die ich verbracht habe, ist keine Kunst, die öffentlichen Seminare sind keine Kunst. Kunst ist vielmehr das, was man sich vorstellt, gleich ob es sich dabei um viele oder wenige Menschen handelt. Sine Somno Nihil...

Joachim Kreibohm