vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 92

Portraits

Pawel Althamer | Andrea Winkler | Andreas Karl Schulze | Georg Winter | Bettina Pousttchi

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Kinki Texas

Essay

Goshka Macuga, Wandteppich nach digitaler Fotomontage (Fridericianum), Foto Hajo Schiff

Textauszug

»Die documenta (13) verlangt den allseits gebildeten Flaneur«
In den zentralen Räumen des wichtigsten Kunstevents der Welt einfach Wind auszustellen – das muss man sich erst einmal trauen. Aber Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) traut sich auch sonst so manches. So hat die künstlerische Leiterin im Vorfeld der Ausstellung mit ihren poetischen, teils skurrilen Aussagen den Erwartungen eine Richtung gegeben, die Spott und geradezu Grusel bewirkten: Von einer nicht-anthropozentrischen Kunst für Hunde und der Demokratie der Erdbeeren war da die Rede. Und in der Tat sind auf dieser documenta vom Schmetterlingsgarten bis zum Partnerprobleme lösenden Yogatanz einige esoterische Randbereiche der Kunst zu finden. Doch CCBs Malteserhund Darsi hat schließlich doch nicht mitkuratiert und so bleibt das eher ein Nebenaspekt. Denn immerhin hat die documenta 193 Teilnehmer an mehr als 35 Orten allein in Kassel. Dazu kommen die trotz versteckter Ankündigung überraschenden Außenstellen in Kabul und die Aktivitäten in Kairo und im kanadischen Banff.

Die strukturelle Unmöglichkeit, diese Weltkunstschau in einem halbwegs angemessenen Zeitrahmen jemals zur Gänze zu sehen und zu erfahren, überträgt das grundsätzliche Dilemma heutiger Überinformiertheit auf die persönliche Wahrnehmung.

Als ob sie den Begriff »Kurator« zu wörtlich genommen hätte, ist »Heilung« das große Thema von CCB. Das beginnt damit, dass schon die Dinge selbst ein heiles Umfeld finden mögen. Und es geht hoffnungsvoll darum, dass die Kunst insgesamt heilsam sei für die Menschen und ihre Ansichten. Heilung durch Kunst wird erwartet bei problematischer Vergangenheit und Konflikten mit der Natur, bei privatem, politischem und ökonomischem Unwohlsein. Die Kunst soll also erst einmal selbst optimal zu ihrem eigenen Recht kommen, sich dann aber gefälligst auch nützlich machen. Das kann mitunter etwas penetrant werden, wenn es wie im »Sanatorium« zu wörtlich genommen wird. Das findet zu Form in Steinbüchern, die Michael Rakowitz aus dem Sandstein von Bamiyan hauen lies, um an die durch Brand vernichteten Exemplare der im Krieg im Fridericianum gelagerten Bücher zu erinnern. Und das schwelgt in Sammlungen wie der Installation »The Repair« von Kader Attia samt aller Vergeblichkeit und Hoffnungslosigkeit der nach Kriegsverletzungen wieder zusammengeflickten Menschen und der gutwillig zur Friedensnutzung umgeformten Kriegsrelikte. Und praktischer Nutzen kann sogar noch in den utopischen Entwürfen gesucht werden, in denen der südafrikanische Zeichner und Trickfilmer William Kentridge die Zeit besiegen will oder in den in grenzenlosem Interesse auch gezeigten Versuchsanordnungen, mit dem der Quanten-Physiker Anton Zeilinger Quantenverschränkungen demonstriert, populärer bekannt aus »Star-Treck« als die Grundlage des Beamens.

Trotz der starken Präsenz der Themen rund um Afghanistan ist diese Ausstellung nirgends vordergründig politisch. Von allerlei ökologischen Projekten zu den historischen Spuren von Zerstörung und Neubeginn finden alle politischen Ansätze, seien sie von weltweiter Bedeutung oder am spezifischen Ort gespiegelt, eine künstlerische Form. Das ist zwar schön, gerät aber doch an den Rand der Naivität, wenn so nachdrücklich geglaubt wird, ein documenta-Ableger könne nun auch Afghanistan heilen. Über die vielen Arbeiten hinaus, die in Kassel das Thema ansprechen, muss Kabul für die hiesigen Nutzer der Ausstellung eine unüberprüfbare Fiktion bleiben – kaum anders als es das einst unter ganz anderen Bedingungen ein Hippie-Ziel auf dem Weg nach Indien war. Eine komplexe Nachforschung von Mario Garcia Torres zum in den 1970er Jahren durch den italienischen Künstlers Alighiero Boetti in Kabul betriebenen »One Hotel« lässt auch diesen Aspekt nicht aus.

Was also ist nun diese Ausgabe der documenta? Ein großer Diskurs über das Ding, das sich Kunstwerk nennt, zugleich Augenfutter und reflexiv, manchmal poetisch und manchmal brutal und verstörend, zeitfressend und ungeahnte Zusammenhänge produzierend, auch ein kuratorisches Modell für präzisen Ortsbezug wie selten zuvor, amüsant ohne auf Theorie zu verzichten und immer subjektiv. Und das ist auch gut so. Wie lässt Ceal Floyer in der vor ihr zusammengeschnittenen Songzeile im Erdgeschoß des frisch durchlüfteten Fridericianums singen: »I’ll just keep on… ‘till I get it right«. Man muss eben an die Kunst glauben, immer wieder ideologiefrei alles neu durchdenken und nicht aufhören zu versuchen, das Beste daraus zu machen.

Hajo Schiff