vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 92

Portraits

Pawel Althamer | Andrea Winkler | Andreas Karl Schulze | Georg Winter | Bettina Pousttchi

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Kinki Texas

Portrait

STR Aus dem Space of total retreat werden Verletzte geborgen (Übung), Hacking the City, Folkwang Museum Essen 2010

Textauszug

Georg Winter
Kennzeichnend für Winters künstlerische Praxis sind temporäre Laboratorien, Forschungsstätten und -projekte aus dem Kunstkontext und anderen wissenschaftlichen Disziplinen, mit denen zeitgemäße Formulierungen von Plastizität entwickelt werden. Zu diesen temporären Projektgruppen gehört auch die um 2005 gegründete »CDED« (Cultural Disasters Emergency Drill), die sich der Notfallbehandlung unserer von Events und Überreizung geplagten Gesellschaft bedient. Die spontane, unerwartete oder gar überraschende Wendung einer Situation, eines Zustandes kann katastrophale (verschlechternde), aber auch anastrophale (verbessernde) Ausmaße annehmen. CDED setzt mit mentalen, autosuggestiven, medizinischen und psychologischen Mitteln bei der Behandlung der körperlichen und mentalen Verfasstheit der Beteiligten und Zuschauer an.

Der für das Projekt »Hacking the City« entwickelte »Space of Total Retreat« wurde über eine Woche lang vor aller Öffentlichkeit als Prototyp eines zivilen urbanen Rückzugsraumes im 1:1 Maßstab realisiert. Architekt und Künstler orientierten sich bei der Planung wortgetreu an dem Theodor W. Adorno zugeschriebenen Diktus: »Form ist niedergeschlagener Inhalt.« »(Adorno: Die Kampagne gegen den Formalismus ignoriert, daß die Form, die dem Inhalt widerfährt, selber
sedimentierter Inhalt ist.«, »Ästhetische Theorie«, Frankfurt am Main, 2003, S. 217). Technische Details wurden vorgestellt und diskutiert, darunter: Schirmelemente (zur Verschattung, Abschirmung gegen extraterres-trische Strahlung, Hitzeschutz, semantische Barrieren), Puffer-Elemente (wie eine Gegenschallanlage, Notstromanlage, Lüftungsanlage mit Wärmetauscher) und das Kernelement zur Nutzbarkeit für bis zu fünf Personen (ausgerüstet mit Lebens- und Trinkmittelbevorratung, Notbeleuchtung, Funkwellen-Abschirmung). Die angekündigte Baubegehung an einem Samstag Mittag, inmitten des alltäglichen City-Trubels unter Anwesenheit zahlreicher Passanten, endete in einem aufwendig vorbereiteten Rettungsszenario. Unter Mitwirkung der Feuerwehr, des Deutschen Roten Kreuzes, der Hundestaffel des Arbeiter-Samariter-Bundes und der Polizei Essen wurden die fünf nach dem skulptural vorbereiteten Einsturz der Skulptur verschütteten Performer in einem über zweistündigen Einsatz geborgen.

Bei allem geht es Winter nicht um Fake, Ironie oder Persiflage, sondern um die Ausarbeitung skulpturaler Qualitäten von Rettungsübungen. Denn auch künstlerische Arbeit basiert auf genauer Beobachtung, Vorbereitung, Training und körperlicher Übung. Winters hoch differenziertes, reduziertes plastisches Repertoire bedient keinen klassischen Begriff von Skulptur, sondern begreift das Medium als bildhauerische Organisations- und Handlungsform. Es ist für das Verständnis seiner Arbeit daher wichtig, ihre Rückführung auf eine vor allem medienkritische Auseinandersetzung zu begreifen.

Sabine Maria Schmidt