vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 100

Portraits

Birgit Megerle | Michael Beutler | Luisa Kasalicky | Anselm Kiefer | Isa Genzken

Ausstellung

Francis Alÿs, Lada »Kopeika« Project. Brussels - St. Petersburg, 2014. In collaboration with brother Frédéric, Constantin Felker, and Julien Devaux. Commissioned by MANIFESTA 10, St. Petersburg. With the support of the Flemish authorities

Textauszug

»Die 10. Manifesta in St. Petersburg«
Alles eine Frage des Kontextes. Diese Manifesta nicht zu mögen ist leicht. Die einen sprechen von aufgezwungener NATO-Kunst, die anderen tadeln die Kooperation mit einem eben nicht »lupenrein demokratischen« System. Noch nie zuvor in der zwanzigjährigen Geschichte der Manifesta wurden alle Exponate von Anwälten auf Verträglichkeit mit dem Recht des Gastgeberlandes geprüft, noch nie mussten so viele Kompromisse gemacht werden. Und, ja, das Film-Programm wurde zensiert. Aber vielleicht ist es wichtiger, dass Vladislav Mamyshev-Monroe (1969-2013), Petersburgs bekannteste Drag-Queen, die Weihen einer Ausstellung in der Eremitage erhalten hat und Boris Mikhailov dort Fotos vom Kiever Maidan zeigen kann. Manche unverrückbar scheinende Regel wird durch die Manifesta wenn schon nicht gebrochen, so doch in Frage gestellt.

Auch der von manchen verlangte und wenigen Künstlern praktizierte Boykott ist trotz politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Spannungen gerade für eine Institution wie die Manifesta unangemessen: Sie wurde nach den Umbrüchen der 1990er Jahre ausdrücklich zur Verständigung von Ost und West in Europa und zum ortspezifisch orientierten künstlerischen Abarbeiten an den Konflikten in ehemaligen oder latenten Krisengebieten gegründet.

Im prachtliebenden Sankt Petersburg und dem wieder forciert auftrumpfenden Russland hängt die Kunst und ihre Bewertung in besonderer Weise von den Kontexten ab – vom kleinen Dialog mit den Räumen und traditionellen Kunstwerken bis zum großen Kampf der international eben doch nicht gleichen Rezeptionsraster und spezifischen Ideologien. Besonders deutlich machen das die in den Winterpalast »eingeschmuggelten« Interventionen, insgesamt 14 Arbeiten von Karla Black bis Pavel Pepperstein. So zeigt Marlene Dumas eine Aquarellserie von Porträts von berühmten, homosexuellen Künstlern und Wissenschaftlern, von Oscar Wilde über Nurejew zu Tschaikowsky, eine allerdings etwas plakative Art, gegen die schwulenfeindliche Gesetzgebung Russlands Stellung zu beziehen. Immer problematisch ist im prüder werdenden orthodoxen Russland auch die Nacktheit. Das muss mitgedacht werden, entdeckt man Gerhard Richters »Ema, Akt auf einer Treppe« statt im Museum Ludwig nun zwischen zwei Säulen im Apollo-Saal ganz in der Nähe des Zarenthrons. Eine Muschelfrau (Frau mit Hund, 2008) von Katharina Fritsch passt dagegen schon fast zu gut in einen der üppigsten im Neo-Rokoko-Stil ausgestatteten Säle. Manchmal wirken derartige Interventionen für das kaum mehr zu verblüffende westliche Publikum teils bekannt, teils bemüht, für die Situation vor Ort scheint dies noch neu zu sein. Wenn aber die Regale der »Wirtschaftswerte« von Joseph Beuys in einem Raum mit romantischer deutscher Malerei stehen, weil diese Bilder in der Lebensspanne von Karl Marx entstanden, erweist sich das inzwischen als ziemlich oberflächliche Kontextualisierung, auch wenn der Meister diesen Zusammenhang für seine Ostwaren-Arbeit von 1980 selbst so gewünscht hatte. Aufwendig und wirklich beeindruckend in der Verschiebung der Kontexte und Proportionen ist besonders der hölzerne Einbau, den Tatzu Nishi (*1960, Nagoya) in einem der barocken Säle errichtet hat: Über eine Stiege erreicht man ein nicht allzu großes, kleinbürgerlich eingerichtetes Wohnzimmer samt Sofa, in dessen Mitte unverändert, aber nun geradezu surreal der große zaristische Kristallleuchter hängt, um den herum die ganze Konstruktion erbaut wurde.

Kernstück für die Präsentation der aktuellen Kunst ist aber nicht der prunkvolle Palast, sondern das neue Generalstabsgebäude gegenüber; hier finden sich auch die meisten Auftragsarbeiten der 10. Manifesta. Thomas Hirschhorns riesige Installation »Abschlag« ist eine mit großem Pathos vorgetragene Vision des Scheiterns. Die Vorderfront eines mehrstöckigen Hauses scheint kollabiert und hat sich in den schick restaurierten Innenhof des neuen Museums ergossen. Als sei sie durch Erdbeben, Abriss oder kriegerische Einwirkung entstanden, ergibt sich so am Boden eine typisch hirschhornsche Materialschlacht. Oben, in den scheinbar stehengebliebenen Stockwerken sind die engen Schlafzimmer einsehbar. Es ist nötig, genau hinzusehen, um zu erkennen, dass in diesen Räumen originale Bilder der russischen Konstruktivisten hängen. Es ist also offenbar, dass deren Utopien zur Schlafzimmerdekoration reduziert wurden. Und das ist bei diesem Bühnenimage vielleicht die schlimmere Katastrophe, als die vorgeführte Zerstörung im Ganzen. Solcherlei Geschichtsbeimageerung passt gut zu dem auch im Innenhof stehenden, fest zur Sammlung der Eremitage gehörenden »The Red Wagon« von Ilya und Emilia Kabakov, eine von ihnen 2011 geschenkte, die Sowjet-Geschichte resümierende Groß-Installation, bei der vom himmelsstürmerischen Pathos der Revolution ein schäbiger Container übrigbleibt, in dem von einer einfachen Holzbank aus ein retro-utopisches Himmelsimage nostalgisch zu betrachten ist.

Dass man sich nicht nur hier ständig fragt, ob hinsichtlich politischer und künstlerischer Parameter, diese Manifesta in Sankt Petersburg nun zu früh oder zu spät stattfindet, kann eigentlich nur eins bedeuten: Sie ist gerade richtig.

Hajo Schiff