vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 100

Portraits

Birgit Megerle | Michael Beutler | Luisa Kasalicky | Anselm Kiefer | Isa Genzken

Portrait

Ausstellung: »Anselm Kiefer – Johannis-Nacht«, 1990, Rauminstallation, Mönchehaus Museum, Goslar, Foto: Uwe Walter, © Anselm Kiefer, VG Bild-Kunst, Bonn 2014

Textauszug

Anselm Kiefer
Kiefers Verehrung zielt auf das angeblich Bildungsbürgerliche seines Werks, Kiefers Verdammung auf sein angebliches Kokettieren mit dem Nationalsozialismus. Beides ist Unsinn und hält einer genauen Prüfung seines Werks nicht stand. Dass seine Kunst, vor allem im Frühwerk, eine Affinität zum Punk hat, dagegen schon. Um genau zu sein, ist es ein Punk vor dem Punk, ein Punk avant la lettre, was Kiefer sogar zu einem seiner Begründer macht. Das wird vor allem in seinen »Besetzungen« aus dem Jahre 1969 deutlich, mit denen er sich bei manchem Betrachter in völlig absurder Weise bis heute verdächtig gemacht hat. Es sind Aktionen, in denen der junge Künstler im Sommer und Herbst historische Orte, darunter Küssnacht und Bellinzona, Rom, Paestum, Montpellier, Arles und Sète aufsucht, wo er auf leeren Plätzen mit zum Hitler-Gruß erhobener Hand posiert.

Kiefers Dilettantismus ist gewollt und setzt einen bewussten Kontrapunkt zu den perfekten Inszenierungen der Nationalsozialisten. Seine lächerlichen Auftritte unter weiten Himmeln und vor einsamen Meeresküsten verwandeln deren aggressives Imponiergehabe ganz unübersehbar in einen chaplinesken Slapstick. Aber Kiefers Aktionen sind weder tumbe Mimikry noch kritiklose Idolisierung des Nazi-Rituals, sondern Tiefenbohrungen in die deutsche Geschichte.

Die erste und ihm besonders wichtige Installation außerhalb seiner Ateliers schuf Anselm Kiefer unter dem Titel »Johannis-Nacht« 1990 im Mönchehaus Museum in Goslar, als die Stadt ihn mit dem Kaiserring ehrte. Nach der Sanierung des Hauses ist diese Installation nun wieder zugänglich. Gegenwärtig wird sie von einer Ausstellung im Haupthaus begleitet, deren Werke die einzelnen Motive der »Johannis-Nacht« näher beleuchten. Kiefer hat sie seinerzeit in einem ehemaligen Stall und in drei Kellergewölben des mittelalterlichen Museumskomplexes geschaffen. Ihr Titel erinnert an ein für Germanen und Christen gleichermaßen wichtiges Datum. In der Installation tauchen Motive, Ideen
und Referenzen auf, die bis heute im Werk des Künstlers eine wichtige Rolle spielen. Ebenfalls sichtbar in ihr wird Kiefers Beschäftigung mit alchemistischen Traditionen, jüdischer Mystik und Mythen der Antike. Im Stallraum sehen wir ein Jagdflugzeug aus Blei, das weiße Puppenkleider und Puppenhemdchen hinter sich herzieht. Kiefer hat ihm den Namen Jason gegeben, des griechischen Helden, der durch List und Tücke das goldene Vlies an sich bringt. Sein letztendliches Scheitern scheint auf im Blei des zum Fliegen gänzlich ungeeigneten Flugzeuges.

Die Installation erinnert aber auch an Lilith, die erste Frau Adams, die in der jüdischen Kabbala als Antagonistin zu Eva auftritt. Sie ist die Frau, die sich dem Willen ihres Mannes und der Götter nicht unterwerfen will und Dämonen gebiert. Ihre Existenz zeugt von emanzipatorischem Geist, aber auch vom Bösen in der Welt. Dessen Entstehen wird in der jüdischen Kabbala durch das Zerbrechen der Gefäße erklärt, in denen Gott sich einst in die Welt verströmte, symbolisiert durch den hell leuchtenden Bleifluss im letzten Kellergewölbe. Das Farnkraut, das den dritten Raum beherrscht, verweist darauf, dass die Erde älter ist als der Mensch. Die Schlange, die sich in ihm windet, dass Gott dem Menschen eine kranke, nach Heilung verlangende Schöpfung hinterlassen hat. Und die zerbrochene Malerpalette neben ihr? Möglicherweise ist sie ein Symbol dafür, dass es nicht länger darum geht, die Welt abzubilden, wie sie ist, sondern darum, sie zu begreifen und vielleicht auch, wie Karl Marx es in seinem Kommunistischen Manifest gefordert hat, zu verändern trotz des notorischen Pessimismus des Künstlers. Anselm Kiefers Installationen sind Reflexions- und Assoziationsräume par excellence. Lassen wir uns auf sie ein, wie es in Goslar nun wieder möglich ist, auf ihre ambivalenten und vielfach kodierten Bilder, bedeutet das nicht nur, dass wir dem Künstler beim Denken zusehen, sondern auch, dass wir dabei Welt und Wirklichkeit, und damit letztlich uns selbst, besser verstehen.

Michael Stoeber