Portrait

Haus der Wanderer, Installationsansicht Westfälischer Kunstverein, Münster, 2019, Foto: Thorsten Ahrendt

Textauszug

Nel Aerts
Die Ausstellung wirkte wie eine Neuauflage der klassischen
Gemäldegalerie mit den Stilmitteln des 21. Jahrhunderts. In den Räumen des Westfälischen Kunstvereins in Münster waren im Frühjahr dieses Jahres unter dem Titel »Haus der Wanderer« Gemälde, Collagen,
Sitzmöbel und eine Videoarbeit der 1987 im belgischen Turnhout geborenen und aktuell in Antwerpen lebenden Künstlerin Nel Aerts zu sehen. Parallel dazu zeigte der Kunstverein Lingen unter dem Titel »Der Schlangenbeschwörer« sozusagen die Schwester-Ausstellung mit älteren Videoarbeiten, Objekten, Gemälden, Zeichnungen, Fotografien, aber auch räumlichen Interventionen der jungen Belgierin. Die auf zwei rund 80 Kilometer voneinander entfernte Städte verteilte Doppelausstellung mit unterschiedlichen Schwerpunkten war die erste institutionelle Präsentation von Nel Aerts in Deutschland. Eine weitere große Einzelausstellung im Museum M im belgischen Leuven folgt Ende Oktober 2019.

Rätselhafte, comicartig wirkende Charaktere sitzen auf ihren Gemälden an großen Tischen, die mitunter mehr als die untere Bildhälfte einnehmen. Diese sind mit gemusterten Tischdecken oder Wachstüchern eingedeckt, deren Rapport meist aus Karos, Schraffuren oder stark vereinfachten Blumendarstellungen besteht. Folkloristisch-ländliche Muster also, die für eine bestimmte Art von Häuslichkeit und Tradition stehen. Den Hintergrund bilden häufig vorüberziehende Wolken. Nel Aerts’ aus wenigen Elementen zusammengesetzte, meist glubschäugige Protagonisten blicken mit einer kruden Mischung aus Skepsis, Staunen und Melancholie aus dem Bild heraus. Manchmal fixieren sie aber auch den Betrachter oder ein im Bild enthaltenes
Gegenüber, etwa in Form eines zwillingsartigen Spiegelbildes oder einer in die Luft gereckten Hand oder Faust. Ganz anders dann wiederum ein Bild wie »Kleine Vlaamsche Meid« (2019), das »Flämische Mädchen«, mit rosiger Gesichtshaut und einem Hut mit Blumenmuster. Ein ironisches Selbstporträt der Künstlerin?

Dass Nel Aerts aber keineswegs nur eine reine Malerin ist, stellte sie insbesondere in Lingen unter Beweis. Hier intervenierte sie zum Beispiel auch mit verschiedenen räumlich-architektonischen Setzungen. Hängung neuere Zeichnungen präsentierte. Zudem errichtete sie eine mit blauem und rosafarbenem Teppichboden ausgelegte, begehbare Bühne. Auf kleinen Röhrenfernsehern auf und unter dieser Bühne waren frühe, auf Video überspielte Super-8-Filme der Künstlerin zu sehen. Darunter ein an Bas Jan Aders Inszenierungen des Scheiterns erinnernder Kurzfilm, in welchem die Künstlerin im Schneidersitz auf einem Tisch sitzt und gleichzeitig mit einer Stichsäge ihre Sitzfläche aussägt, bis sie herunterfällt.

Alles, was Nel Aerts produziert, kommt geradezu ikonisch und mit einem hohen visuellen Wiedererkennungswert daher. Ihre auf den ersten Blick harmlos verspielt wirkenden Figuren entfalten in ihrer variantenreichen Fülle, aufgrund ihrer Aufladung mit
zusätzlichen kulturellen Codes, etwa in Form von Stoffmustern oder folkloristischen Symbolen und den ganz bewusst gewählten Titeln der Arbeiten, ein großes Potenzial an Inhalt und Bedeutung. Nel Aerts ist zwar keine reine Malerin, aber auch wenn sie in anderen Medien arbeitet, folgt sie gewissermaßen einer Rhetorik des Malerischen. Der immer mal wieder geforderten Überwindung und Auflösung des viele Jahrhunderte alten Mediums Malerei setzt sie radikal subjektive Werke entgegen. So eröffnet sie dem Malerischen neue Spiel- und Lesarten – gerade auch in unserer zunehmend vom Datenkapitalismus bestimmten Welt.

Nicole Büsing / Heiko Klaas