Artist Ausgabe Nr. 104

Portraits

Renzo Martens | Trevor Paglen | Achim Bitter | La Biennale die Venezia 2015 | Nan Goldin

Interview

Daniel Marzona

Page

Wolfgang Michael

Portrait

The Look, 2014, Chromogenic Print, 61 x 167 cm , Courtesy die Künstlerin und Matthew Marks Gallery, New York

Textauszug

Nan Goldin
Ihr Leben änderte sich, als einer ihrer Lehrer ihr einen Fotoapparat in die Hand drückte. Da war sie 15 Jahre alt und besuchte die Satya Community School in Lincoln, Massachusetts, eine freie und demokratisch organisierte Schule, deren Pädagogik sich an den Lehren von A. S. Neill, dem Begründer von Summerhill, orientierte. Zuvor war sie Schülerin der Lexington High School gewesen, einer staatlichen Schule in einem Vorort von Boston. Dort in Lexington hatte die 1953 geborene Nan Goldin als jüngste von vier Geschwistern zusammen mit ihren Eltern gewohnt. Vater und Mutter gehörten zur jüdischen Mittelklasse und waren extrem konservativ. Immer wieder kollidierte das energische Freiheitsstreben der Kinder, vor allem der Tochter Barbara, mit den rigiden Erziehungsnormen der autoritär agierenden Eltern. Als ihre vier Jahre ältere Schwester, an der Nan Goldin sehr hing, sich tragischerweise umgebracht hatte, verließ sie mit 14 Jahren ihr Elternhaus und ging nach Lincoln. Es sollte Jahre dauern, bis Nan Goldin wieder mit ihren Eltern sprach, denen sie die Schuld am Tod von Barbara gab. Nach der Loslösung von ihnen war sie auf der Suche nach einer Alternativfamilie, »her family«, die sie in wechselnden Peergroups und Freundeskreisen finden sollte. Der Fotoapparat half ihr, Zugang zu ihnen zu finden. Er war eine Art Legitimation, um dabei sein zu dürfen, vor allem, wenn es sich bei ihnen um soziale Kreise handelte, die sich nicht jedem selbstverständlich öffneten. In dieser Funktion haben auch Anton Corbijn und vor ihm Andy Warhol über den Zauber des Fotografierens gesprochen. Der Fotoapparat als Türöffner, um mit Menschen in Kontakt zu kommen, die anzusprechen man sonst sich nicht getraut hätte.

Mit dieser empathischen Anteilnahme und ihrer mitreißenden Energie fotografiert Nan Goldin nun auch die Menschen ihrer neuen Umgebung. Nie irgendjemanden. Sie fotografiert nur die Menschen, die in ihrem Leben von Bedeutung sind und für die sie selbst wichtig ist. Und sie fotografiert auch nur, wenn die von ihr Porträtierten ihre Zustimmung gegeben haben. Sind sie mit einem Bild nicht einverstanden, dann wird es von Goldin verworfen. Das begründet ein sehr exklusives Vertrauensverhältnis zwischen der Künstlerin und ihren Protagonisten, durch das intime und zugleich zärtliche und berührende und nicht ausbeuterische Bilder möglich werden, die ihresgleichen suchen. Gleichgültig, in welcher Situation und Verfassung Nan Goldin ihre Menschen fotografiert, ob in Glück oder Schmerz, ob lachend oder weinend, ob beim Liebesspiel im Bett oder beim einsamen Masturbieren auf der Toilette, ob beim Trinken von Alkohol oder Konsumieren von Drogen, ob als erbarmungswürdig Geschlagene, ganz wortwörtlich so, und Zusammengehauene, ob als elend Verlassene und furchtbar Kranke, ja, Sterbenskranke und Aidskranke oder als strahlende Sieger, nie sind ihre Bilder peinlich oder entwürdigend. Künstlerfotografen wie Brassaï der Cartier-Bresson, die im Bruchteil einer Sekunde besser und schneller als andere die Möglichkeit für die Aufnahme eines über sich selbst bedeutungsvoll hinausweisenden Bildes erfassten, hat man regelmäßig mit dem Ehrentitel belegt, sie seien ein »Auge«, als ob ihre ganze Persönlichkeit in einem gelingenden Sehen aufginge. Ganz so ist Nan Goldin ein Auge. Ein Auge, das äußerst zartfühlend und immer solidarisch auf die von ihr Porträtierten schaut. Mit Wärme, nicht kühl, distanziert. In dieser Hinsicht sind ihre Bilder definitiv anders als die von Diane Arbus, mit der man sie verglichen hat. Und auch noch anders als die von Larry Clark, von dem Nan Goldin als von einem von ihr bewunderten Vorbild spricht.

Michael Stoeber