Artist Ausgabe Nr. 51

Portraits

Beate Gütschow | Bernhard Martin | Jeppe Hein | Markus Selg | Clay Ketter | Sophie Calle

Interview

Christoph Keller

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Dieter Froelich

Künstlerbeilage

Andreas Karl Schulze

Portrait

Textauszug

Sophie Calle
Eine Reihe spektakulärer Arbeiten, die ein ähnliches Prinzip des Detektivischen verbindet, entsteht mit der »Suite Vénetienne« von 1980. Calle folgte einem Mann, der ihr in Paris flüchtig vorgestellt worden war, nach Venedig. Wie eine Figur aus einem Nouvelle-Vague-Film der 60er Jahre, vergleichbar mit den Selbstinszenierungen von Cindy Sherman, macht sich Calle unkenntlich mit einer Sonnenbrille, einer blonden Perücke und einem Regenmantel. In dieser Camouflage wird sie zum Schatten des Mannes, den sie Henri B. nennt. Sie lauert ihm vor seinem Hotelzimmer auf, folgt seinen touristischen Erkundungen und befragt Personen, mit denen er Kontakt hatte. Sie fotografiert ihn, jedoch immer nur von hinten, so daß seine Identität nicht preisgegeben wird. Auf einem Foto sieht man die Silhouette des Mannes im Halbdunkel. Der Kopf ist nach vorne geneigt und unter der Krempe seines Huts schimmert hell sein Nacken auf. Am Ende versucht Calle erfolglos sich in das verlassene Hotelzimmer des begehrten Mannes einzumieten. In ihrer romantischen Obssession wird sie immer unvorsichtiger, bis Henri B. sie schließlich entdeckt und ihr rigide jedes weitere Fotografieren verbietet. Die Aktion endet in frustrierender Unerfülltheit der libidinösen, drängenden Projektion. »Suite Vénetienne« wirkt wie ein dreidimensionales Filmscript, in dem sich Bilder eines allgemeinen kulturellen Gedächtnisses mit der persönlich motivierten Geschichte der Künstlerin verbinden.

Die künstlerischen Strategien Sophie Calles erinnern an die französische Tradition einer dem Sozialen zugewandten Poesie, wie man sie seit den 50er Jahren von Guy Debords »Situationismus« über Jean Rouchs »Cinema Verité« bis zu Pierre Bourdieus Alltagssoziologien kennt. So hatte der Philosoph Bordieu etwa den kreativen Ausdruck privater Interieurs untersucht und der Regisseur Jean Rouch schuf mit seiner improvisierten Kamera, den Zufallssituationen und spontanen Interviews eine neue dokumentarische Ästhetik. Aber auch die risikobereiten Selbstversuche Sophie Calles, ihre leidenschaftliche Selbstauslieferung an unterschiedlichste, auch prekäre Milieus, ruft ein Bild des Grenzgängertums hervor, das an Leben und Werk Jean Genets, dem ‘enfant terrible’ der französischen Literatur, erinnert. Sophie Calle hat in den mittlerweile rund 20 Jahren ihres Schaffens die Ebenen von Leben und Kunst, von Realität und Fiktion untrennbar vermischt. Der Kritiker Yves-Alain Bois bezeichnete sie als den »ewigen Wanderer« und man darf auch von ihren zukünftigen Aktionen eine konsequente Weiterführung dieses umfassenden Prinzips erwarten.

Anke Kempkes