Portrait

Twelve Deaths, 2012, Chess, tables, chairs

Textauszug

Wilfredo Prieto
Einen geistreicheren Auftakt hat man selten gesehen, als den des kubanischen Künstlers Wilfredo Prieto, geboren 1978 in Sancti-Spíritus, Kuba, bei seiner ersten Einzelausstellung in Deutschland im Braunschweiger Kunstverein Salve Hospes. Im Entree der klassizistischen Villa trifft der Besucher auf eine etwa mannshohe Kugel aus milchig weißer Klebefolie. Da sie so breit wie hoch ist, ist sie von beeindruckender Präsenz trotz des fragilen Stoffes, aus dem sie gefertigt wurde. Sie wirkt wie auf einen Sockel gehoben, obwohl sie auf dem Boden liegt. Man denkt bei ihrem Anblick an Platon, der die Kugel zusammen mit anderen geometrischen Figuren wie Kegel, Kubus und Zylinder als Idealkonstruktionen an seinen Ideenhimmel heftete. Nicht von ungefähr sind sie als Symbole einer vollkommenen Rationalität durch die abendländische Kulturgeschichte gewandert. Wo die Welt nach Maß und Zahl erfasst wird, tauchen sie in emblematischer Weise auf. Zuletzt in der amerikanischen Minimal Art. Von Puristen der Form wird die Kugel am höchsten geschätzt, ist doch jeder ihrer Oberflächenpunkte von ihrem Mittelpunkt gleich weit entfernt. Auf dieser Prämisse beruhen alle mathematischen Formeln, die sich an ihren Charakter knüpfen. Aber genau in diesem Sinne stimmt mit der Braunschweiger Kugel etwas nicht. Prieto hat sie von Hand geformt, und so haben sich in ihre Physiognomie kleine Unregelmäßigkeiten eingeschlichen. Ohne davon zu sprechen, dass das transparente Klebeband mit jeder neuen Wicklung zunehmend undurchsichtig wird. Damit mutiert die Kugel vom strahlenden Symbol einer cartesianischen Welt, in der alles »clare et disticte« zu Tage liegt, zum dunklen Emblem menschlichen Ungenügens. Der Titel des Werks umreißt den Sachverhalt: »The More You Add, The Less You See« (2011). Natürlich spielt er auch mit dem berühmten Diktum von Frank Stella: »What you see is what you see.« Wie fast alle Titel im Werk von Wilfredo Prieto eröffnet er der Arbeit des Künstlers einen semantischen Hallraum, der einen mehr sehen lässt, als man sieht, weil er einem scheinbar banalen Exponat einen Twist gibt, der es in poetische, philosophische und oft genug auch ökonomische und politische Dimensionen führt.

Der Höhepunkt dieser Schau ist zweifellos die Installation »Twelve Deaths« im Spiegelsaal der klassizistischen Villa. Der Saal mit seinem prunkvollen Dekor bietet einen bestechenden Rahmen für das, was Wilfredo Prieto dort zeigt. Auf zwölf einfachen Tischen, geordnet in Reih und Glied, alle identisch und mit jeweils zwei einander gegenüber stehenden, ebenfalls identischen Stühlen versehen, befinden sich zwölf gleiche Schachbretter mit den dazu gehörigen Figuren darauf. Alle bilden sie unterschiedliche Schachpartien ab. Es sieht so aus, als hätten die Spieler den Ort verlassen. Bei näherer Inspektion der Bretter wird klar, warum das der Fall sein könnte. Jede Partie zeigt ein Schachmatt. Mit dieser Einsicht verändert sich die Rezeption der Inszenierung. Aus einer einem Schachwettbewerb ähnelnden Veranstaltung wird eine überwältigende Metapher des Todes. Auf einmal ähneln die Schachbretter mit ihren unterschiedlichen Finalen Leichen auf Autopsietischen. Hier wie dort können wir diagnostizieren, was den Untergang der weißen oder schwarzen Figuren besiegelt hat, bzw. was die unmittelbare Todesursache ist. Aber welche Fehler in der Partie, bzw. welche Dramen im Leben dazu geführt haben, bleibt im Dunkeln. Jedes Ende eines Menschen ist so individuell und persönlich wie sein Leben. Sie bleiben seine ureigene Angelegenheit, gleichgültig, wie begabt und außergewöhnlich oder wie dumm und banal er gewesen sein mag. Dass der Tod ein großer Gleichmacher ist, wird hier schlagend widerlegt. Zwar müssen wir alle sterben, was eine eher triviale, wenn auch schlecht zu akzeptierende Einsicht ist, aber wie wir sterben, ist sehr unterschiedlich. Wohl genau so unterschiedlich, wie wir gelebt haben. Nicht umsonst lesen wir bei den antiken Denkern: »Philosophieren heißt sterben lernen.« Keine Partie endet wie die andere. Und nur die Konstellationen des jeweiligen Schlusses deuten darauf hin, wie tapfer und intelligent sich die Spieler geschlagen haben, ob sie ihr Untergang wie aus heiterem Himmel traf, unvermutet und in völliger Ahnungslosigkeit oder als Folge von Kurzsichtigkeit und des Unvermögens, klug und gut mit dem Spiel, sprich ihrem Leben, umzugehen. Einmal mehr scheint der kubanische Künstler einem modernen Orpheus gleich gegen die Ohren betäubenden Parolen einer kollektiven Zwangsbeglückung das hohe Lied individuellen Lebens und Sterbens zu singen, wie es vor ihm auch schon J. W. Goethe im »West-östlichen Divan« getan hat: »Höchstes Glück der Menschenkinder ist doch die Persönlichkeit«.

Michael Stoeber