Artist Ausgabe Nr. 114

Portraits

Reinhold Budde | Thomas Judisch | Candice Breitz | Korpys / Löffler

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Wiebke Siem

Edition

Thomas Judisch

Polemik

Foto: Raimar Stange

Textauszug

»Was bin ich?«
Die Frage »Was und wer ist ein Künstler« lässt sich z. B., frei nach dem Philosophen Ludwig Wittgenstein, so beantworten: Jemand der Kunst macht ist ein Künstler. Alles klar? Eben nicht, denn wann macht jemand eigentlich Kunst? Die deutschen Steuerbehörden machen es sich da derzeit (zu) einfach und legen fest, dass ein Künstler jemand ist, der in Eigenarbeit (altehrwürdige) Materialien wie Ton, Marmor, Leinwand zu künstlerischen Zwecken benutzt. Klingt einleuchtend? Selbstverständlich nicht, denn was ist mit einem Künstler, der (unaltehrwürdige) Materialien wie etwa Aluminium oder Neon künstlerisch von Assistenten, also nicht mit eigener Hand, bearbeiten lässt? Die deutschen Steuerbehörden stufen einen solchen Artisten - ich kenne davon mehrere, Namen zu nennen aber verbietet sich hier selbstverständlich - auf keinen Fall als solchen ein, auch wenn es sich sogar um international überaus erfolgreiche Künstler handelt. Gewiss: Die Steuerbehörden tun dies zunächst aus gutem Grund, wollen nämlich die Künstler bewusst von den kommerziellen Dekorateuren unterscheiden. Was die Behörden aber sträflich versäumen, ist ihre rigide Definition an neue, veränderte künstlerische Produktionsweisen anzupassen, die neben der Bildhauerei und Installationskunst, auch für z. B. Photographie, Performancekunst und Videokunst zutreffen.

Also sei jetzt flugs ein zweiter Versuch unternommen, die eingangs von mir gestellte Frage zu beantworten, dieses Mal frei nach Marcel Duchamp, dem Ahnherr aller Konzeptkünstler: Ein Artist ist, wer Kunst in Kunstinstitutionen ausstellt, so wie das Urinal, das im Museum steht, Kunst ist, und das Urinal, das bei mir zu Hause ist, nur ein schnödes, aber funktionsgerechtes Teil meines Bades darstellt. Doch auch diese scheinbar überzeugende Antwort birgt wieder ganz reale alltägliche Probleme mit erheblichen Konsequenzen, wird sie doch von der Künstlersozialkasse nicht akzeptiert. Wer sich dort langfristig als Künstler versichern lassen will, der muss, ganz schnöde und typisch für »unseren« Kapitalismus definiert, genug Geld verdienen, ansonsten ist er eben nur ein Hobby-Kreativer und darf sich dann keinesfalls kostengünstig bei der Künstlersozialkasse versichern lassen.

Diese zweite von mir vorgeschlagene Antwort auf die Frage »Was und wer ist ein Künstler?« hat leider noch weitere Implikationen, die nicht zu unterschätzen sind. Was nämlich bedeutet sie für noch weniger im real-existierenden Kunstbetrieb »erfolgreiche« Künstler? Sind diese, obwohl sie jahrelang Kunst studiert haben und einen großen Teil ihrer Lebenszeit immer noch für die Kunst aufopfern, tatsächlich keine Künstler, nur weil ihnen die Ausstellungen in Institutionen oder Galerien fehlen? Zudem: Wer entscheidet letztlich, welche Ausstellungen kulturell wertvoll sind und welche nicht? Kann es nicht sogar ein Zeichen von künstlerischer Qualität sein, wenn jemand im Moment gerade keinen Erfolg hat? Wenn also die (neoliberalen) Galerien ihn ignorieren und die karrierebewussten Jungkuratoren an ihm vorbeischauen, die Museumsleute ihn daher nicht einmal kennen? Zumindest gibt es immer wieder diverse Exempel, dass eine ernsthafte artistische Produktion so sehr aus dem aktuellen Kunstbetrieb-Mainstream herausfällt, dass sie keine Anerkennung, welcher Art auch immer, erfährt.

Doch schon der jüngst gestorbene Kulturkritiker Peter Bürger stellte in seinem wichtigen Buch »Theorie der Avantgarde« (1974) fest, dass gerade die Kunst der Avantgarde zu weiten Teilen eben keine autonome Kunst war, sondern dezidiert politischen Inhalt formulierte und »etwas wollte«, also nicht hehr und zweckfrei war. In dieser Tradition von z. B. George Grosz, Wladimir J. Tatlin und John Heartfield - alle drei gehören heute unbestreitbar zum längst etablierten Kanon der westlichen Kunstgeschichte - arbeiten heute Kunstaktivisten wie »Bankleer«, »Pussy Riot« oder das berüchtigte »Zentrum für Politische Schönheit«, aber auch engagierte Künstler wie Hiwa K, Hito Steyerl, Jonas Staal oder Renzo Martens.

Raimar Stange