Artist Ausgabe Nr. 109

Portraits

Nick Koppenhagen | Lili Reynaud Dewar | Rochelle Feinstein | Albert Oehlen | Jimmie Durham

Interview

Susanne Titz

Page

Michael Schmid

Edition

Michael Schmid

Portrait

Installationsansicht, 2016, Kunstverein in Hamburg 2016, Foto: Fred Dott

Textauszug

Lili Reynaud Dewar
Im Zentrum der komplexen Hamburger Schau steht der im vergangenen Mai in Memphis entstandene Film »TEETH GUMS MACHINES FUTURE SOCIETY«, der auch der ganzen Ausstellung ihren Titel gibt. Der große Ausstellungsraum in der oberen Etage des Kunstvereins in Hamburg ist so offen gehalten wie selten zuvor. Das Motto der Künstlerin scheint zudem »Think Big« zu lauten. Genau in der Mitte des Raumes befindet sich auf einem kreisrunden schwarzen Teppich ein gigantischer HD-Flatscreen, der von sechs imposanten Lautsprecherboxen umstellt wird. Platz nehmen darf man auf bequemen weißen Sitzsäcken.

Lili Reynaud Dewar lässt die Mitwirkenden in ihrer Videoarbeit über Zähne als Statussymbol, Zahnfleischbluten, den alltäglichen Rassismus, Fast Food und die Doppelbödigkeit von Worten diskutieren. Dazu zeigt sie endlose Kamerafahrten durch die menschenleeren Straßen von Memphis, Szenen aus einem Dentallabor oder lässt computeranimierten Müll frei durchs Bild flottieren. Den realen Zivilisationsmüll – darunter Tablettenblister, Flugtickets und Softdrinkflaschen – aber, den diese während der Dreharbeiten, die einer performativen Recherche gleichkam, in der »Levitt Shell«, einer legendären Freiluftbühne im Art-Deco-Stil, produziert haben, präsentiert sie auf dem Boden des Kunstvereins und in sechs aufgeständerten Abfallkörben in Grill-Optik. Die Hamburger Schau ist von zahlreichen Rückkopplungsmomenten dieser Art durchzogen.

Geschlechter-, Klassen- und Rassendifferenzen, Kapitalismuskritik, Political Correctness und kulturelle Hegemonie. Am Ende wird auch in der Hamburger Schau die angeschnittene Komplexität nicht aufgelöst. Doch genau das macht die Qualität dieser künstlerischen Position aus. In ihren Videoarbeiten, Performances und Installationen stellt Lili Reynaud Dewar gesellschaftlich relevante Fragen, indem sie virulente kulturelle Codes – und seien es Zahnspangen – auf ihr emanzipatorisches Potential, ihre allgemeine Verfügbarkeit, aber auch auf ihre Limitierungen hin untersucht. Wiederholung ist ein wichtiges Element meiner Praxis«, so Lili Reynaud Dewar. Doch Lili Reynaud Dewar betreibt die Wiederholung nicht der Wiederholung willen. Wer ihre Arbeit und ihre einem großen Kontinuum gleichende Ausstellungspraxis verfolgt, der wird bemerken, dass bestimmte Elemente als Spuren vergangener oder Vorankündigungen zukünftiger Projekte gelesen werden können. So waren in ihrer Mitte April 2016 eröffneten Galerieausstellung bei Emanuel Layr in Wien bereits zwei Vorhänge mit Fotografien von Zähnen vor violettem Hintergrund zu sehen. Was Lili Reynaud Dewars künstlerische Produktion und Ausstellungspraxis so spannend und ungewöhnlich macht, ist ihr mitunter verwirrendes und rätselhaftes Spiel mit sich permanent widersprechenden Unvereinbarkeiten, Anachronismen, Grenzüberschreitungen und der wohldosierten, gleichwohl provokanten Verletzung sowohl subkultureller als auch gesamtgesellschaftlicher Tabus.

Nicole Büsing / Heiko Klaas