vergriffen

Artist Ausgabe Nr. 93

Portraits

Hans Op de Beeck | Christian Helwing | Vlassis Caniaris | Gillian Wearing | Elianna Renner

Page

Hartmut Neumann

Portrait

Sleeping, 2011, Fußbodenfarbe (weiß, schwarz, grau), Wandfarbe, umgehängte Neonbeleuchtung, schwarze Farbe auf der Außenseite der Fenster (ein Rahmen von 5 cm ausgespart), Pilot Projekt für Kunst, Düsseldorf, Foto: Christian Helwing

Textauszug

Christian Helwing
Auf Bruno Taut und damit auf die Anfänge der architektonischen Moderne bezieht sich Christian Helwing ganz explizit in einem Werk für das Treppenhaus des hannoverschen Kunstvereins. Der Titel der Installation »A crystal lives on« (2010) zitiert, wenn auch durch englische
Übersetzung und elliptische Verkürzung verfremdet, eine Inschrift, die Taut seinem für die Kölner erkbundausstellung 1914 geschaffenen Glaspalast einprägen ließ: »Ohne einen Glaspalast ist das Leben eine Last. Licht durchdringt das ganze All. Es ist lebendig im Kristall.« Beim Dichten half ihm seinerzeit Paul Scheerbart, der den Glaspalast als zeitgemäße Wiedergeburt eines salomonischen Tempels euphorisch begrüßt hatte. Das lebendige Kristall wird in Helwings Titel zum Glas, das weiter lebt. Das ist durchaus programmatisch zu verstehen. Die Tradition ist für den Künstler lebendig, er setzt sich mit ihr auseinander, und sie lebt weiter in seinem eigenen Werk, wenn auch natürlich in veränderter Form.

Hier wird wie unter einem Brennglas das künstlerische Selbstverständnis Helwings deutlich und sein Verhältnis zur Tradition der Moderne. Nicht das Vokabular und die Sprache von Geometrie und Konstruktivismus sieht er diskreditiert oder kontaminiert, so dass er sie verwerfen müsste, sondern
den ideologischen Überbau, der sich mit ihnen üblicherweise verbindet. Die einseitige und ausschließliche Betonung kartesianischer Kognition. Die hochfahrende Erwartung, »clare et distincte« die Welt auf den Begriff bringen und in den Griff nehmen zu können. Menschheitsbeglückung mittels des rechten Winkels. Und das angesichts einer Population, der bereits Immanuel Kant bescheinigt hat, sie sei »aus krummem Holz gemacht, und daraus könne nichts ganz Gerades gezimmert werden.« Wie zur Bestätigung und Illustration der These des Philosophen treibt Helwing in 2010 in das orthogonale Gehäuse des Ladenlokals in Essen - daher der Titel des Werks: »EAT.« - einen schwarzen unzugänglichen Keil, den er aus der doppelten Diagonalteilung des Raums gebildet hat. Wieder eine Anstiftung zur Konfusion mittels einer glasklaren Struktur. Und selbst wenn sich die Besucher des Kunstvereins bei ihrer ästhetischen Konsumption an diesem Werk nicht verschluckt haben, dürfte doch so mancher von ihnen kopfschüttelnd vor ihm gestanden sein.

Michael Stoeber