Portrait

Ricordi per Moderni, 2009, Still, Courtesy der Künstler und Galerie Isabella Bortolozzi, Berlin

Textauszug

Yuri Ancarani
In Hannover dagegen betritt man ein preiswürdiges Sanktuarium der Kunst, in dem die Werke Ancaranis mit schwarzem Teppichboden, weißen Wänden und hellen Vorhängen virtuos zur Geltung gebracht werden. Ein die Räume beherrschendes Schwarzweiß, ebenso minimalistisch wie ausdrucksstark, das sich auch als Anspielung auf die Ambivalenz der Werke des Künstlers lesen lässt. Es wird ergänzt durch die Ästhetik der technischen Einrichtung, wobei die gelungene Platzierung der unterschiedlich formatierten Screens und der dazu gehörenden Beamer ins Auge fällt. In jedem Raum ist das Licht sanft und sensibel, drängt sich nie auf, sondern macht sich eher unsichtbar und dient dabei in ausgezeichneter Weise der Rezeption der Betrachter, die sich den Werken des Künstlers konzentriert widmen können. Herausragend ist, wie der lange Raum im Kunstverein gestaltet wurde, dessen Einrichtung für jede Ausstellung eine Herausforderung darstellt. Platz-Gallus hat dort Ancaranis »Ricordi per moderni« (Erinnerungen für moderne Menschen) installiert, insgesamt vierzehn Videos aus den Jahren 2000-2009. Eine fünfzehn Meter lange Bank vor den Bildschirmen ermöglicht es den Besuchern, auch sitzend den Überblick zu behalten und gleichzeitig jedes Video einzeln zu betrachten.

Den Schritt vom Videokünstler zum Filmkünstler vollzog der Künstler im Jahr 2010. Vorausgegangen war dem eine Einladung an ihn, auf dem 67. Filmfestival in Venedig ein neues Werk zu zeigen, dessen Produktion indes mit einer strengen Auflage verbunden war: Es sollte ein Kurzfilm in 35mm sein, mit HD Auflösung und Dolby Surround. So entstand »Il Capo«, der Film, der ihn nicht nur bekannt machte, sondern ihm auch den Weg zum Filmkünstler wies. Ancarani entschied sich nach seiner Fertigstellung dafür, in Zukunft Werke zu schaffen, die nicht nur in Kunstinstituten, sondern ebenfalls in Kinosälen gezeigt werden konnten. Il Capo« wurde 2010 in den Marmorbrüchen von Carrara gedreht. Er ist in mehrfacher Hinsicht charakteristisch für die Ästhetik des Künstlers. In der ersten Einstellung sieht man eine riesige, freigestellte Marmorwand, die das ganze Bild einnimmt, untermalt von den Arbeitsgeräuschen im Steinbruch. Dann reckt sich hinter dieser Wand langsam der Arm eines Baggers in die Höhe, an dessen Ende ein gierig geöffnetes Maul mit großen Zähnen aus Stahl hängt, das sich nun vorsichtig über die Stahlwand zu legen versucht. In eben diesem Augenblick tritt wie aus einer Kulisse seitlich ein Mann ins Bild, braun gebrannt, nur mit einer kurzen Hose und Schuhen bekleidet. Er ist klein im Verhältnis zu Marmorwand und Bagger. Aber er hat seine rechte Hand wie ein Dirigent erhoben und gibt mit ihr dem Mann in der Kabine des Baggers Zeichen, wie er bei der Zerkleinerung der Wand vorgehen soll. Er ist der Capo, der Chef, der die Operation durch seine Hinweise leitet. Seine Bedeutung wird deutlich, indem er im Filmverlauf immer stärker ins Bild tritt, bis die Kamera auf seiner braunen Brust eine kleine goldene Kette in den Blick nimmt, an der ein Kreuz mit Christus-Figur hängt. Am Ende der Operation wie des Films wird das Motiv wieder aufgenommen, als die Kamera über die Landschaft fliegt und auf dem am höchsten gelegenen Berg ein Gipfelkreuz aufnimmt. Ein Marmorbruch ist per se kein schöner Ort, eher das Gegenteil davon: ein Ort der Mühsal und schwerer, auch gefährlicher Arbeit. Aber der Chef, der buchstäblich alles mit leichter Hand zu leiten weiß, scheint das vergessen zu machen. Als wüsste er, die Erdenschwere der Wirklichkeit zu transzendieren. Er ist ein Verwandlungskünstler, der das Formlose formt. Der Ordnung schafft und damit eine Form von Schönheit, die Ancarani interessiert. Genau das versucht er als Regisseur in seinen Werken auch. Ein Grund mehr, warum ihn der Capo so fasziniert. Im Grunde ist er eine Art Alter ego Ancaranis, der über seine Filmästhetik berichtet, sie sei ein »Cocktail aus Schönheit und Realität«. Eine Schönheit, die sich oft genug aus dem Hässlichen speist. »Foul is fair and fair is foul«. Eine Transsubstantiation, von der auch die drei Hexen in Shakespeares »Macbeth« singen.

Überwältigende Bilder und Bildsequenzen schafft Yuri Ancarani auch in seinem neuesten Langfilm »Atlantide«, in dem, worauf der Titel hinweist, das heutige Venedig mit seinen vielen Inseln zum mythischen und märchenhaften Atlantis wird. Zu jenem von Platon beschriebenen Inselreich, das infolge einer Naturkatastrophe vom Meer verschlungen wurde. Aber nicht das touristische Venedig steht hier im Zentrum. Ancaranis Film erzählt, wieder in dokumentarischer Manier im Stil des cinéma vérité, von Jugendlichen, die mit schnellen Motorbooten in der Lagune von Venedig unterwegs sind, die dort schwimmen und sonnenbaden, dealen und Hasch rauchen, Musik hören und feiern und eine gute Zeit haben, wobei er die Bilder in einem kargen fiktionalen Handlungsgerüst arrangiert. Protagonist des Films ist Daniele, der mit seinem Boot und seiner Freundin Anschluss an die Gruppe sucht und bei einem Wettrennen ums Leben kommt. Die Bilder der übers Wasser krachenden Boote und ihre nächtlichen Illuminationen, der Anblick der stillen Wasser, der dunkel in die Nacht ragenden Zypressen, der dramatischen Himmel und wechselnden Sonnenuntergänge sind überwältigend. Manche Sequenzen sind etwas lang; da macht sich die Abwesenheit einer ausgefeilten Dramaturgie bemerkbar. Dafür entschädigt die halluzinatorische Schlusssequenz, in der ein Boot durch die Wasserstraßen von Venedig rast mit um neunzig Grad gekippter Kamera, sodass die Bilder aussehen, als sei die durch kapitalistisches Profitstreben und unverantwortlichen Umgang mit dem Weltklima zum Untergang prädestinierte Stadt bereits untergegangen.

Michael Stoeber