Artist Ausgabe Nr. 130

Portraits

Ulla von Brandenburg | Renée Green | Alexander Steig | Harald Popp

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Anna Meyer

Portrait

Leinekiesel (numerisch), (Detail), 2-Kanal Closed-Circuit Videoinszenierung, 2021, 2 Monitore, 2 Videokameras, 2 Stative, Leinekiesel, LED-Spot, Zeitschaltuhr, Pappe, Cinch-Kabel, Rips, Tischlerplatte. Ausstellungsansicht: feinkunst, Hannover, Courtesy the Artist, VG Bild-Kunst, Bonn, 2022, Foto: Marc Rodenberg

Textauszug

Alexander Steig
Diese Verbindung von Verzauberung und Ernüchterung, von Poesie und Prosa ist typisch für die Arbeitsweise und Kunst von Alexander Steig. Und sie erinnert das Publikum in all seinen Werken, mehr noch als in der einzelnen Arbeit »Kryptós«, an die Malerei der New York School. Eine ihrer berühmtesten und bekanntesten Protagonisten war Jackson Pollock, der von einem bestimmten Zeitpunkt an seine Bilder nicht mehr mit dem Pinsel malte, sondern seine Farben auf die am Boden liegenden Leinwände tropfte und schüttete, woraufhin ihn seine Freunde und Künstlerkollegen in großer Anspielungsfreude »Jack The Dripper« nannten. Das Ergebnis dieser Malweise war das Allover und die Aufhebung einer perspektivischräumlichen Bildarchitektur im klassischen Sinn. Clement Greenberg, der Kritiker und Exeget der New York School, leitete daraus das normative Postulat des Flachmalens ab: »Make it flat!« Die Maler sollten in ihrer Malerei nicht mit Trompe l’oeil und augentäuschenden Tricks arbeiten, sondern den zweidimensionalen Charakter der Leinwand betonen. Die Kunst war gehalten, ihr Instrumentarium zu zeigen und dem Betrachter kein X für ein U vorzumachen. Nach den moralischen Erschütterungen im 20. Jahrhundert wurde Ehrlichkeit für die Kunst zum Gebot der Stunde und in gewisser Weise auch zur Signatur der Moderne.

Auch die Videoinszenierung »Leinekiesel« (2021) in den Räumen des hannoverschen feinkunst-Vereins spielt mit der Differenz von Bildursache und Bildwirkung. Steig führt das in vier Kabinetten vor. Je nachdem, in welcher Reihenfolge man sie besucht, wird man entweder von der Ursache zur Wirkung oder vice versa von der Wirkung zur Ursache geführt. Beginnen wir mit dem Installationsdispositiv, also im Prinzip mit der Ernüchterung oder dem prosaischen Aspekt im Werk des Bildzauberers Steig! Auf einer runden, weißen Pappscheibe sehen wir einen handtellergroßen Kieselstein, umgeben von vier auf ihn gerichteten Kameras. Sie blicken jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven auf ihn, was logischerweise dazu führt, dass sie jeweils andere Seiten von ihm zeigen. Schaut der Betrachter auf die Bilder, die sie von dem Stein produzieren, ohne dieses Dispositiv zu kennen, ist das für ihn indes keineswegs klar und eindeutig. In seiner medialen Inszenierung stellt Steig somit auf eminent leichthändige Art die Wahrnehmungsfrage: Was sehen wir eigentlich, wenn wir etwas sehen? Und er stellt zudem auch die Identitätsfrage neu, mit der uns gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Dichter Arthur Rimbaud konfrontiert hat. In den Worten seines berühmten Selbstbefunds: »Je est un autre.« Ich ist ein Anderer. Dass Steig sich dabei eines Kiesels bedient, den er im Flussbett der Leine gefunden hat, ist als Hommage an seine Geburtsstadt Hannover zu verstehen. Eine ähnliche Inszenierung des Künstlers gab es 2019 auch schon mit einem Kiesel aus der Isar zu Ehren von München, der Stadt, die inzwischen schon lange zu seiner neuen Heimat geworden ist.

Alexander Steig setzt uns mit seiner Kunst in Erstaunen. Damit folgt er einem Rat von Jean Cocteau, der einst einem jungen Künstler, von ihm befragt, wie er es anstellen müsse, in der Kunst erfolgreich zu sein, riet: »Faites-moi étonner.« Aber zugleich folgt er auch dem ethischen Rigorismus eines Clement Greenberg oder Bertolt Brecht, die immer für Ehrlichkeit in der Kunst plädiert haben und für einen menschenfreundlichen Humanismus. All dies zeigt sich darin, dass Alexander Steig stets die Instrumente und Szenarien seiner Kunst für das Publikum sichtbar macht. Aber auch darin, dass er es mitnimmt und teilnehmen lässt an seiner philosophischen und analytischen Lust am Denken, an der Verwandlung und der Scharade. In seinen Werken sieht man sich nicht nur beim Sehen zu – »Visus Visere«, das Sehen sehen, hieß in der Vergangenheit eine exemplarische Videoinstallation Steigs für den Kunstraum München. Man lernt nicht allein seine Wahrnehmung zu analysieren, sondern auch diese Tätigkeit zu lieben. Ein von ihm initiiertes Symposion widmete sich der Pause und damit dem kreativen Nichtstun. Nichts dürfte für Künstler – doch nicht nur für sie – wichtiger sein, um zu neuen Ideen zu kommen. Marcel Duchamp gab einmal auf die Frage, woran er arbeite, die schöne Antwort: »Je respire.« Ich atme. Der Humanismus in der Kunst von Alexander Steig zeigt sich aber auch an Projekten, in denen er die Vergangenheit zu seinem Thema gemacht hat. Beispielhaft dafür steht seine Recherche zur Zwangsarbeit im Außenlager Agfa Kamerawerk München-Giesing des KZ Dachau. Für die Opfer schuf er mit der großen schwarzen Kamera als Memorial ein eindrückliches Zeichen des Gedenkens.

Michael Stoeber