Portrait

Biennale Venedig: Pawel Althamer, Installation, »Almech«, 2011-12, Foto: Klaas

Textauszug

Die 55. Biennale in Venedig
In einer dandyhaft-luftigen Inszenierung zeigt Gioni stattdessen, wie Künstler und Außenseiter verschiedenster Generationen ihre Vorstellungen von Utopien und persönlichen Fluchten umgesetzt haben. Auf das Arsenale und den zentralen Pavillon verteilt, gibt es Geschenkzeichnungen der Shaker voller harmlos-floraler Muster aus dem 18. Jahr-
hundert, diverse Stein- und Mineraliensammlungen, satanistisch-düsteren Symbolismus bei Aleister Crowley (1875-1947) und Frieda Harris (1877-1962) oder das aus Holz geschnitzte Bestiarium des Levi Fisher Ames (1843-1923), eine Menagerie aus (Fantasie-)Tieren, mit der der Bauernsohn aus Wisconsin 30 Jahre wie ein Schausteller über Land gezogen ist. Oder, ein anderes markantes Beispiel, den Japaner Shinichi Sawada, Jahrgang 1987, der an schwerem Autismus leidet und sich aus Terracotta eine Götter- und Dämonenwelt modelliert hat, die so mannigfaltig wirkt, als hätten Archäologen eine bisher unbekannte Hochkultur ausgegraben. All das ist zwar ungewöhnlich, wird aber dem Anspruch einer Biennale, auch künstlerische Aussagen über den Status Quo und das Wohin unserer Gesellschaft zu treffen, nicht gerecht.

Im zentralen Pavillon auf dem Giardini-Gelände verdichtete Gioni dann seine Präsentation eskapistischer Weltentwürfe. Das kollektive Unbewusste traf dort einmal mehr auf utopistische Weltentwürfe und individuelle Mythologien. Den programmatischen Auftakt bildeten hier Tempera-Zeichnungen des Schweizer Seelenforschers C.G. Jung aus der Zeit zwischen 1914 und 1930 und Rudolf Steiners schon oft gezeigte, im Jahre 1923 entstandene Kreidetafeln, die das imaginative Denken versinnbildlichen sollen. Der esoterische Kosmos, den Gioni hier mit seinem Konzert solipsistischer Introvisionen aufstößt, behauptet, dem Materialismus der heutigen Welt und wohl auch der merkantilen Glätte des Kunstmarkts etwas entgegensetzen zu wollen. Von ihm prominent präsentierte »Outsider Artists« wie etwa der Amerikaner Morton Bartlett (1909-1992) haben jedoch längst die höheren Weihen des etablierten Kunstbetriebs und des Marktes erhalten. Bartletts lolitaähnliche, naturalistische Puppen sind symptomatisch für Gionis undifferenzierte, alles zur Kunst erklärende Haltung. Eine Antiquitätenhändlerin hat sie 1993, ein Jahr nach dem Tod des Einzelgängers, in dessen Nachlass gefunden. Für eine breitere Kunstöffentlichkeit waren sie wohl nie bestimmt. Vielmehr geht man heute davon aus, dass sich Bartlett, der seine leiblichen Eltern früh verloren hatte, in Form dieser Puppen so etwas wie eine Ersatzfamilie geschaffen hat. Bartlett wird in den USA als Outsider-Artist posthum gefeiert. 2012 wurde er von Udo Kittelmann auch im Hamburger Bahnhof in Berlin ausgestellt. Bartlett bedient allerdings allzu offensichtlich und auf allzu problematische Art und Weise die Vorliebe einzelgängerischer Männer für sexuell attraktive, unschuldig wirkende und jederzeit verfügbare Kindfrauen. Gerade an Arbeiten wie dieser entzündet sich daher die Frage, ob man als Kunst zeigen darf, was ursprünglich womöglich nur als Ersatzhandlung oder intimes Privatvergnügen angelegt war. Darüberhinaus bleibt es fraglich, ob die Dachbodenfunde des international profilierten Italieners dem Kunstmarkt wirklich so fern sind, wie von ihm behauptet. In den USA ist das keineswegs der Fall. Und auch auf der diesjährigen Art Basel traf man so manche der neuen alten Bekannten aus Venedig wieder. Ganze Nachlässe lange vergessener Außenseiterkünstler liegen mittlerweile in den Depots marktbeherrschender Galerien. Die umfassende Vermarktung auch dieser Arbeiten, die Gioni im Übrigen zum Teil bereits auf der 8. Gwangju Biennale 2010 in Südkorea ausgestellt hat, ist also bereits im vollen Gange.

Nicole Büsing / Heiko Klaas